Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Wörter, aber Bryan musste sein Ohr an die trockenen Lippen legen, ehe er den Freund verstand. »Halt dich fern! Bleib weg!«, hatte James geflüstert.
Bryan wich zurück, und der Schmächtige schlug mit der Bettdecke.
Als die Front immer näher rückte, flüchteten die Menschen aus der Stadt in den Schwarzwald.
Mitte September passierten Dinge, die Bryan veranlassten, seine Verhaltensregeln aufs Neue zu revidieren, vielleicht zum letzten Mal.
An einem strahlenden Morgen, das Herbstlicht fiel in aller Klarheit durch die Fensterläden, wäre James fast verblutet, als sie ihn fanden. Alle Verbände waren abgerissen und die fast verheilte Wunde am Kopf klaffte wieder. James’ Haut war so bleich wie das Bettlaken, seine Hände von geronnenem Blut fast schwarz. Im blinden Glauben, er habe sich diese Verletzungen selbst zugefügt, brachte man dicke Verbände um seine Hände an, sodass er das nicht noch einmal tun konnte.
Und dann gaben sie ihm noch eine Bluttransfusion.
Bryan wusste nicht mehr aus noch ein, als er wieder die Glasflasche am Galgen über dem Kopfende von James’ Bett hängen sah.
Zwischen Bryan und den anderen Simulanten herrschte Waffengleichheit. Sie behielten einander sehr genau im Auge. Eines Tages fiel James plötzlich in so tiefe Bewusstlosigkeit, dass Dr. Holst das Wort Koma benutzte. Während er noch den Kopf schüttelte, drehte er sich um und verabschiedete sich lächelnd von Bryans Bettnachbarn und von seinem Gegenüber, die beide endlich den grünen Entlassungsstempel bekommen hatten.
Zum ersten Mal sah Bryan Patienten in anderer Kleidung als im Nachthemd. Schließlich waren alle vom ersten Tag an in nichts weiter als diesen am Hals zugebundenen, nach hinten offenen, knielangen Krankenkitteln herumgelaufen. Unterhosen hatten sie so gut wie nie getragen.
Die beiden Offiziere strahlten. Bekleidet mit frisch gebügelten Reithosen, den hohen Schirmmützen und allerlei dekorativem Tand auf den gestärkten Jacken wirkten sie gleich so, als hätten sie ihre volle Autorität und Würde wiedergewonnen. Dr. Holst schüttelte beiden zum Abschied die Hand, die Krankenschwestern knicksten. Noch vor wenigen Tagen hatten dieselben Schwestern den Männern einen Klaps gegeben, wenn sie nach dem Bad nicht nackt an ihnen vorbei defilieren wollten. Als Bryans ehemaliger Nachbar dem Pfleger Vonnegutdie Hand geben wollte, wurde der so verlegen, dass er ihm statt der gesunden linken Hand die eiserne Faust hinhielt.
Nach welchen Kriterien die Ärzte zwischen gesund und krank unterschieden, war kaum nachvollziehbar. Aber gesund genug, um als Kanonenfutter zu dienen, waren die Männer wohl allemal.
Beide waren mächtig stolz und auf naive Weise aufgekratzt. Sie sprachen von Arnhem.
Offenbar war das ihr nächster Einsatzort.
Als sich sein Nachbar von ihm verabschiedete und ihm direkt in die Augen sah, erkannte Bryan den Patienten nicht wieder, der monatelang Tag und Nacht schwer atmend an seiner Seite gelegen hatte.
Mit den ersten Meldungen über deutsche Siege bei Arnhem veränderte sich die Stimmung auf der Station. Einige der Patienten, die am ehesten zur Entlassung anstanden, gingen aufrechter und ließen keine Gelegenheit aus, zu demonstrieren, dass es ihnen bereits viel besser ging. Bei anderen Patienten verschlechterte sich der Zustand, sie schrien nachts häufiger, wiegten sich heftiger hin und her, zeigten neue, sonderbare Zuckungen und Mundbewegungen und fraßen wieder mehr, als dass sie aßen.
Auch die Simulanten reagierten.
Der Pockennarbige ging seiner Aufgabe mit solcher Inbrunst nach, dass die Pfleger für einige Tage die Essensverteilung übernahmen. Der Breitgesichtige führte täglich ein Schauspiel auf, er grüßte Vonnegut und die Mitpatienten andauernd mit dem Hitlergruß. Nachts musste die Nachtschwester kommen, weil er in einem Anfall von Lebensfreude lauthals sang und dazu den Takt aufs Bettgestell klopfte.
Bryan machte es wie der schmächtige Simulant. Er schüttelte sich, zog sich die Decke über den Kopf und war stumm wie immer.
Sein offenkundig hoher Rang, die große Verantwortung, seine Hinfälligkeit und die zögernde Genesung waren Bryans Lebensversicherung und der Garant dafür, dass er nicht wie sein Nachbar und sein Gegenüber an der Front enden würde. Womöglich wusste keiner so recht, was man mit ihm anstellen sollte.
Um sein eigenes Leben hatte Bryan keine Angst. Aber um das von James. Er fürchtete sich vor allem davor, was die Simulanten mit dem
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