Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Loch im Schädel, das kommt doch nicht von allein!, zischte Bryan unhörbar, als sie die Bettkante, das Kopf- und das Fußende sowie den Fußboden auf der Suche nach einer Erklärung für die Verletzungen untersuchten. Verräter!, schimfte er sich selbst und betete, James möge am Leben bleiben.
Gegen den Willen der Ärzte wurde im Krankenzimmer eine kurze Ermittlung durchgeführt. Der junge Sicherheitsoffizier sah sich die tiefe Wunde gründlich an und befühlte die Stirn, als sei er die ärztliche Kapazität. Dann untersuchte auch er haargenau das Bettgestell, den Fußboden, die Wände, die Bettpfosten. Und als er nichts fand, ging er von Bett zu Bett und riss den Patienten die Bettdecken weg, um nachzusehen, ob sie etwas darunter versteckten.
Lass Spuren an ihren Händen sein oder Blut an ihren Nachthemden, flehte Bryan stumm. Denn James, der kreidebleich war, musste heftigst geblutet haben. Aber der Sicherheitsoffizier fand nichts. Schließlich scheuchte er die Krankenschwestern herum und trampelte mit seinen Stiefeln zwischen den Betten hin und her, dann erhielt Schwester Petra den Befehl, etwas zu holen.
Ehe Bryan begriff, was sie vorhatten, hatten sie James die Braunüle bereits gesetzt. Die zugehörige Flasche hing an dem Galgen über dem Bett.
Oh Gott, jetzt wirst du sterben, dachte Bryan, und versuchte sich zu erinnern, was James vor ewigen Zeiten in jenem Lazarettzug über Bluttransfusionen und Bluttypen gesagt hatte. »Mach, was du willst, Bryan, aber ich tätowiere mir A plus«, hatte James gesagt und damit sein eigenes Todesurteil gefällt. Nun lief das falsche Blut durch den Schlauch – in die Venen eines Schwerverletzten.
Bryan war davon überzeugt, dass die Simulanten James nicht hatten töten wollen. Sie hätten es tun können, wenn sie gewollt hätten. Aber sie wollten nicht. Denn Gerhart Peuckert war nicht irgendwer. Er war Standartenführer der SS. Würde man feststellen, dass James zu Tode geprügelt wurde oder irgendeines anderen unnatürlichen Todes gestorben war, würde man bei den dann anberaumten Untersuchungen mit Sicherheit wenig zimperlich vorgehen.
Die Simulanten wollten Gewissheit und Kontrolle. Bis jetzt hatten sie weder das eine noch das andere erreicht.
Dann wurde James zum Waschen entkleidet. Bryan seufzte erleichtert, als er sah, dass James sein Halstuch nicht trug. Die drei Männer verfolgten das Geschehen aufmerksam. Je mehr blaue Flecken und Blutergüsse zu sehen waren, umso tiefer drückten sich die drei Teufel in ihre sicheren Lager.
Schwester Petras wiederholte Versuche, die Ursache dieser Verwundungen zu erforschen, wurde von ihren Vorgesetzten jedes Mal kurz und bündig vereitelt. Schwester Petra schuf Unruhe. Schwester Lili hingegen war stets daran gelegen, dass sich die Verhältnisse im Krankenzimmer schnellstmöglich normalisierten. Sie lebte offenbar mit der sonderbaren Vorstellung, allein der Verdacht eines Verbrechens könnte auch ihr eine Schuld zuweisen. Untersuchungen und Verhöre konnten Misstrauen bedeuten, und Misstrauen konnte zur Versetzung führen – in letzter Konsequenz bedeutete das: Dienst in einem Lazarett an der Ostfront.
An Phantasie fehlte es Schwester Lili vermutlich nicht.
Die Verantwortung für James oblag in den nächsten Tagen allein Schwester Lili.
Der Allgemeinzustand des Patienten war schlecht, darum bekam er eine weitere Bluttransfusion. Insgesamt liefen also zwei Flaschen Blut der falschen Blutgruppe – mehr als ein Liter – in James’ Körper.
Und er lebte.
20
DIE TAGE VERGINGEN schleppend. Allmählich wurde Bryan klar, dass der Albtraum noch lange nicht vorüber war.
Die erste Warnung kam, als er eines Morgens aufwachte und sah, wie Petra neben dem zitternden James am Bett saß und seinen Kopf an sich drückte und streichelte, als tröstete sie einen Weinenden.
Später in der Woche saß James unruhig im Bett und erbrach sich. Als am selben Abend der Breitgesichtige und der Pockennarbige unterwegs waren, um die Essenseimer zu holen, riskierte Bryan, dicht an James’ Bett vorbeizugehen. Der dritte Simulant schien tief zu schlafen.
James war extrem blass. Seine Haut wirkte wie Pergament, die Schläfen schimmerten bläulich.
»Du musst jetzt schnell wieder gesund werden!«, flüsterte Bryan. »Unsere eigenen Truppen sind bald da. Nur noch ein, zwei Monate, dann sind wir frei.« James reagierte nicht, sondern lächelte nur und spitzte den Mund, als wollte er Bryan bitten, still zu sein. Dann formte er
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