Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Sterblich und verletzlich. Die Schusssalven verstummten so plötzlich, wie sie begonnen hatten.
Die deutschen Soldaten am Ufer hatten genug zu tun.
Obwohl er nur noch ein kleines Stück vom rettenden Ufer entfernt war, spürte Bryan schließlich, dass sein Körper ihm nicht mehr gehorchen wollte. Seine Beine versagten ihm den Dienst. Er sank.
Später erinnerte sich Bryan, dass er plötzlich lachen musste. Denn gerade, als ihn das Wasser fast schon verschlungen hatte, trafen seine Füße auf Grund.
Von den ersten Sonnenstrahlen begleitet, watete er ans Ufer.
Das Ticken der Handfeuerwaffen war auf einmal südlich von ihm.
Trotz des stellenweise dichten Bewuchses am Ufer wurde schnell klar, dass das nächtliche Gefecht auch hier seine Opfer gefordert hatte. Bryan begann zu zittern, als er die Uniform sah.
Der amerikanische Soldat war vermutlich davon überrascht worden, dass das Dickicht so plötzlich aufhörte. Er sah noch im Tod überrascht aus. Bryan legte sich ganz dicht neben die Leiche und rieb seine steifgefrorenen Finger.
Die Uniform des Soldaten würde seinem Körper sicher ein klein wenig Wärme spenden.
Bryan sah sich um. Die Sandbank im Fluss war ein ganzes Stück weit entfernt. An der Spitze lagen mehrere Kähne, und ein Stück weiter zur Westseite des Flusses hin war ein weiterer Prahm vertäut. Er war schwer mit Dung beladen, der Gestank weckte in Bryan Erinnerungen an eine schöne, vergangene Zeit. Aber die Detonationen im Norden riefen ihn gleich wieder zurück in die Realität. Immerhin: Lankaus breites Gesicht war nur noch ein Fleck dort draußen im Fluss.
28
» ALSO NOCH MAL zum Obergruppenführer: Wurde er bewacht? War er tatsächlich verrückt? Was genau wissen Sie darüber?« Die Fingerspitzen des Nachrichtenoffiziers, den sie Wilkens nannten, waren gelb vom Nikotin. Er zündete sich schon wieder eine Zigarette an. Vermutlich hatten ihn seine Kollegen gewarnt, Bryan Underwood Scott Young sei nicht besonders gesprächig.
Bryan verzog das Gesicht, als ihm der Rauch in die Nase stieg. »Sir, ich weiß es nicht. Ich glaube, er war verrückt. Aber ich weiß es nicht. Ich bin kein Arzt.«
»Sie waren mehr als zehn Monate in diesem Krankenhaus. Da müssen Sie doch einen Eindruck gewonnen haben, wer krank war und wer gesund!«
»Meinen Sie.« Bryan schloss wieder die Augen. Er war so müde. Wie oft hatte Hauptmann Wilkens ihn nun schon dasselbe gefragt. Er suchte nach einfachen Erklärungen. Wieder zog er an der Zigarette und er hielt den Rauch lange in der Lunge. Den Kopf gesenkt, betrachtete er Bryan aufmerksam. Er bewegte die Hand mit der Zigarette in einer abrupten Bewegung auf Bryan zu, als wollte er ihm auf die Sprünge helfen. Die Asche landete auf Bryans Bettkante. »Ich habe doch schon mehrmals erklärt, dass der General verrückt war. Jedenfalls glaube ich, dass er es war.« Bryan sah auf den Fußboden. Unbeteiligt fuhr er fort: »Ja, ich bin überzeugt, dass er verrückt war.«
»Wie geht es Ihnen?« Unbemerkt war der Oberarzt ins Zimmer gekommen. »Wir machen doch Fortschritte, Mr. Young?« Bryan zuckte die Achseln. Wilkens lehnte sich zurück, er konnte seinen Ärger über die Unterbrechung gut verbergen.
»Sprechen ist nach wie vor unangenehm. Meine Zunge fühlt sich immer noch seltsam an.«
»Das ist doch wohl kein Wunder.« Der Oberarzt lächelte und nickte dem Hauptmann zu, der angefangen hatte, seine Notizen zusammenzupacken.
Bryan legte den Kopf aufs Kissen. Vor fast drei Wochen hatten amerikanische Infanteristen ihn aufgelesen. Seither war er unzählige Male verhört worden. Inzwischen hatte er von seiner Muttersprache genug. Die vielen Monate in sprachlicher Isolation hatten ihn für Fragen überempfindlich gemacht. Die Antworten waren doch so egal.
Zwar hatten ihm die Ärzte immer wieder erklärt, dass er von seinem Aufenthalt in der Nervenklinik keinen dauerhaften Schaden davontragen würde. Aber er wusste, dass das nicht stimmen konnte. Die Narben am Körper würden verheilen, vielleicht würden auch diese Stimmungsschwankungen eines Tages abklingen und vielleicht würde sich sogar das Gewebe des Gehirns nach den Elektroschockbehandlungen wieder erneuern. Vielleicht würde auch die permanente Angst, in Lebensgefahr zu sein, eines Tages vergehen. Aber der eigentliche Schmerz, das Gefühl, jemanden im Stich gelassen zu haben, der grub sich mit jedem Tag tiefer in seine Seele. Wer sollte, wer konnte das jemals heilen?
Die Nächte waren lang.
Bereits im
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