Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
andere Umstände damals.«
Mr. Scott hob den Zeigefinger. »Aber Sie selbst stammen nicht aus Canterbury, höre ich. Darf ich raten? Wolverhampton?«
»Gar nicht schlecht, Mr. Scott. Ich bin in Shrewsbury geboren. Aufgewachsen bin ich aber in Sheffield.«
»Und jetzt leben Sie in Coventry, wie ich sehe.« Wieder studierte er den Eintrag in seinem Kalender. »Hatten wir schon einmal geschäftlich miteinander zu tun, Mr. Lester?«
»Nein. Das heißt, natürlich sehen sich alle Arzneimittelhersteller Englands früher oder später mit Ihrem Lizenzgeschäft konfrontiert. Aber nein, wir hatten bisher noch nicht das Vergnügen, uns in geschäftlichen Zusammenhängen zu begegnen.«
»Rotary? Sport? Eton? Cambridge?«
Der Jüngste der Runde rückte seine Aktentasche zurecht und lächelte. Mr. Lester schüttelte den Kopf. »Nun sind wir ja nicht gekommen, um uns in Erinnerungen zu ergehen, Mr. Scott, also will ich lieber zur Sache kommen. Schließlich sind Sie ein vielbeschäftigter Mann. Wir beide sind uns vor sehr langer Zeit begegnet. Und unter anderen Namen. Das kann natürlich zu Verwirrungen führen.«
»Ah ja. Ja, das ist richtig, ich habe meinen Namen geändert. Das vergesse ich immer wieder. Meine Mutter und mein Stiefvater haben sich scheiden lassen. Damals hieß ich Young. Bryan Underwood Scott Young. Und jetzt eben nur noch Scott. Und Sie?«
»Lester ist der Name meiner Frau. Sie fand meinen Familiennamen zu provinziell. Aus Rache habe ich dann aber meinen Nachnamen als Mittelnamen behalten. Wilkens, Sir.«
Bryan sah den älteren Herrn eine Weile sehr genau an. Die Zeit hatte in Bryans Gesichtszügen unverkennbar Spuren hinterlassen, aber er meinte, sich über die Jahre nur wenig verändert zu haben. Dagegen fiel es ihm schwer, im Gesicht seines angenehmen, fast glatzköpfigen Gegenübers die harten Züge von Hauptmann Wilkens zu entdecken.
»Ich bin älter als Sie, Mr. Scott.« Er strich sich über das schüttere graue Haar und nickte. »Aber Sie haben sich außergewöhnlich gut gehalten. Wie ich sehe, haben Sie sich von Ihrem bösen Sturz gänzlich erholt.«
»Ja, das habe ich.« Bryan Underwood Scott hatte sich im Lauf der Zeit den Ruf erworben, ein wahrer Eisblock zu sein, ein Mann, dem niemals eine Unsicherheit anzumerken war, der seine Gegner niemals aus den Augen ließ und der Meinungsverschiedenheiten stets mit fundierten Einwänden zu seinen Gunsten entschied.
Nach dem Medizinstudium hatte er sich als Spezialist für Magen- und Darmerkrankungen niedergelassen, diesen Schwerpunkt in den letzten Jahren aber immer weiter zurückgefahren zugunsten einer Tätigkeit als Sportarzt, Forscher sowie zunehmend auch als Geschäftsmann. Seine Willensstärke, seine Beharrlichkeit und auch ein gewisser Mangel an Sentimentalität hatten Opfer gefordert. Aber keine finanziellen. Als seine Mutter vier Jahre zuvor starb, war er bereits so vermögend, dass für ihn der Anteil an den sechs Millionen Pfund, die sie ihm und seinen Geschwistern hinterlassen hatte, kaum noch von Bedeutung war.
Das Schlüsselwort lautete: Lizenzen. Herstellungsrechte für Arzneimittel, chirurgische Instrumente, Komponenten für Scanner und Ersatzteile für japanische und amerikanische Monitore. Alles im Dienst der Gesundheit. Ein gigantischesGeschäftsfeld, auf dem bezüglich Kosten die sonst sprichwörtliche britische Zurückhaltung nur wenig zum Tragen kam.
Seine Laufbahn hatte Bryan Underwood Scott manche Turbulenzen beschert. Doch keine davon konnte es mit der Erschütterung aufnehmen, die diese völlig unerwartete Begegnung in ihm auslöste: Er saß Hauptmann Wilkens von Angesicht zu Angesicht gegenüber, einem Menschen, für den er aus gutem Grund keine Sympathie hegte.
»Selbstverständlich erinnere ich mich gut an Sie, Hauptmann Wilkens.«
»Andere Umstände. Andere Zeiten.« Clarence W. Lester verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Es waren harte Zeiten. Für uns alle.« Er runzelte die Stirn. »Haben Sie je herausgefunden, was aus Ihrem Kameraden geworden ist, Mr. Scott?«
Bryan schwieg und spürte, wie sein Herz sich zusammenzog. Dann schüttelte er kaum erkennbar den Kopf.
»Und Sie haben vermutlich sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft?«
Bryan nickte und sah zur Tür. Die Akte Teasdale war bereits vor der Kapitulation der Deutschen geschlossen worden. Acht Monate später hatte der Geheimdienst widerstrebend erklärt, die Gestapo-Archive befänden sich in den Händen der Russen
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