Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Insel oder eine Sandbank im Rhein.
Was für ein Glück, denn das hieß, dass er den Fluss in zwei Etappen überqueren konnte. Der Aufenthalt auf der Sandbank würde ihm eine Verschnaufpause verschaffen. Noch ehe das Scheinwerferlicht des nächsten Lastwagens auf die Torfhaufen wenige Meter weiter traf, ließ er sich das letzte Stück des Deichs bis zu jenem Fluss hinunterrollen, der ihm die Rückkehr ins Leben bringen sollte.
Bryan hatte sich geirrt. Das Wasser war so kalt, dass sein Körper ihm den Dienst binnen kürzester Zeit versagen würde. Bryan kannte die Warnzeichen, denn er hatte wiederholt unterkühlte Fallschirmspringer gesehen, die wehrlos auf der Erde aufgeschlagen waren. Diese Art von Kälte kroch einem in den Körper, und selbst die stärkste Willenskraft konnte nichts dagegen ausrichten.
Hinzu kam die starke Strömung. Bryan hatte das Gefühl, als flössen sämtliche Schmelzwasser durch diese schmale Passage.Er ließ sich einfach treiben. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Bald schon war die Sandbank aus seinem Sichtfeld verschwunden.
Hier war der Rhein extrem breit. Wie breit, konnte er nicht einschätzen, weil er so tief im Wasser lag. Aber immerhin war ihm bewusst, dass man seine Gestalt im Halbdunkel von keinem Ufer aus erkennen konnte. Es könnte ihn höchstens einer der Lichtkegel, die ab und zu über den Fluss huschten, erfassen.
Wie aus dem Nichts tauchten die Leichen auf. Still trieben sie mitten im Strom. Sie mussten schon lange im Wasser liegen, so aufgequollen, wie sie waren.
Unaufhörlich begleitete ihn das Geräusch der Gefechte am westlichen Ufer. Bryan packte eine der Leichen und versuchte, am Ufer Leben auszumachen. Seine Körpertemperatur war inzwischen so niedrig, dass er um jeden Preis aus dem Wasser kommen musste. Nur wenige hundert Meter vor ihm erhob sich eine Brücke. Schwache Lichter weiter im Norden zeigten an, dass sich dort eine weitere hohe Brücke befand. Zwischen diesen beiden schienen die Ingenieurtrupps Pontons zu einer schwimmenden Brücke verbunden zu haben. Der Bedarf an solchen Lebensadern war in dieser Nacht sehr groß.
Fast unablässig blitzte das Feuer der Mörsergranaten. Die Luft vibrierte. Und immer wieder hörte Bryan Schreie.
Als Bryan den toten Soldaten losließ, drehte der sich leicht schaukelnd auf den Rücken. Nun sah Bryan auch, warum der Leichnam nicht weiter stromabwärts getrieben war: Die Leiche hing an einem Gitter fest. Vielleicht war das ein Zufall, aber es wirkte, als verliefe an dieser Stelle eine Absperrung längs durch den Fluss und teilte ihn. Mit einsetzender Dämmerung erkannte Bryan immer deutlicher, wie sich das Wasser dort kräuselte, wo Zweige und Abfall an dem Gitter festhingen.
Das hieß, wenn er über das Gitter kletterte, konnte man ihn vom Ufer aus sehen. Am östlichen Ufer war alles ruhig, aber am Westufer konnte sein Untergang lauern. Bryan musste aufdas vertrauen, was er erkennen konnte, menschliche Laute durchdrangen die Kakophonie des Krieges in diesem Moment nicht.
Energisch packte Bryan die Spitzen des Gitters und ließ sich rückwärts auf die rettende Seite fallen. Schwer atmend klammerte er sich an das Gitter und suchte mit den Augen das westliche Ufer ab.
Genau an jener Stelle wollte er versuchen, an Land zu kommen. Eine Gruppe von Bäumen bewegte sich im Wind. Der Bewuchs schien dicht zu sein und Schutz zu bieten. Dort wollte er etwas verweilen, um wieder warm zu werden, ehe er weiterzog.
Nur ein Tier hätte die Gefahr gewittert. Als man ihn urplötzlich am Arm packte, war Bryan so unvorbereitet wie ein Mensch, den ein Herzschlag trifft.
Bryan fühlte nichts als blankes Entsetzen, als er in die Augen des Breitgesichtigen sah. Bryan konnte gerade noch aufschreien, da zog ihn der feste Griff um seinen Hals bereits in die Tiefe. Hier also, im dunklen Fluss, würde sein Leben nun enden. Sein Widersacher wollte es so.
Aber als Bryans Füße auf den Querstreben des Gitters Halt fanden, schob er sich mit letzter Willenskraft nach oben. Der Breitgesichtige hatte nicht die Absicht loszulassen und brüllte vor Schmerzen, als seine Unterarme in dem Gitter, das sie trennte, eingeklemmt wurden. Das war Bryans Rettung.
Die Schüsse kamen von hinten, vom östlichen Ufer, und der Breitgesichtige brüllte nur noch lauter. Dann verstummte er und sackte in sich zusammen, schließlich ließ er los. Als er sich an die Spitzen des Gitters klammerte und zusah, wie Bryan dem Ufer zustrebte, wirkte er ganz normal.
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