Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
und das Schicksal des S S-Offiziers Gerhart Peuckert bliebe somit unaufgeklärt. Bryan waren die Hände gebunden gewesen. James Teasdale war ja nur einer von vielen. Selbst der politische Einfluss und sämtliche Kontakte seines Stiefvaters hatten nichts ausrichten können. Bryan hatte seither immer wieder versucht, an Informationen zu gelangen, auch mit Hilfe von sehr viel Geld. Achtundzwanzig Jahre waren inzwischen vergangen, in denen sein rabenschwarzes Gewissen nach und nach grau geworden war.
Wilkens versuchte sich in einem mitfühlenden Blick.
Bis zur Tür waren es nur wenige Schritte. Bryan überlegte,ob er gehen und die Tür hinter sich zuknallen sollte. Übelkeit stieg in ihm auf. Die Albträume waren zurückgekehrt.
»Gerade heute Morgen habe ich meinem Sohn erzählt, mit welcher Beharrlichkeit Sie versucht haben, Informationen über Ihren Freund zu beschaffen. Sind Sie seitdem je wieder in Deutschland gewesen?«
»Nein.«
»Unglaublich, wenn man bedenkt, in welcher Branche Sie tätig sind, Mr. Scott.« Bryan reagierte nicht. »Sie nehmen mir doch hoffentlich nicht übel, dass ich diese alten Geschichten aufrühre?« Wilkens wirkte, als würde er die Antwort kennen, doch er irrte sich. Die Besprechung war beendet, noch ehe der Halbstundenschlag der Standuhr im Vorzimmer verklungen war. Die beiden Männer waren gekommen, weil sie sich von Bryan die Genehmigung für das Kopieren von Waren erhofften, für die er die Lizenz besaß. Er erteilte sie ihnen nicht, machte nur wenige vage Versprechungen. Eine einzige Bestellung wurde zur Prüfung an Mr. Scotts Assistenten Ken Fowles weitergeleitet. Vater und Sohn waren offensichtlich enttäuscht.
Sie hatten sich mehr versprochen.
So eine Pall Mall ohne Filter rauchte Bryan inzwischen äußerst selten.
Trotz der Hitze schlug er den Mantelkragen hoch. Er lehnte sich gegen die Wand und sah hinüber zur Fassade des Kiosks. Aus der Underground-Station Elephant & Castle strömten die Menschen. Die Mittagspause war vorbei.
»Ich komme heute nicht mehr zurück ins Büro, Mrs. Shuster«, hatte er zu seiner Sekretärin gesagt.
Das war ungewöhnlich. Laureen würde bereits wittern, dass etwas im Busch war. Zwar hatte sich seine Frau an seinen Gefühlsschwankungen und deren Ursachen nie sonderlich interessiert gezeigt, aber sie verfügte über ein untrügliches Gespür für Turbulenzen. Falls sie ihrer Intuition folgte undim Büro anrief, würde Mrs. Shuster ihr Erstaunen nicht verbergen können. Laureen war in dieser Hinsicht zu manchem fähig. Und genau aus diesem Grund hatte Bryan einen Großteil seines Erfolgs in Wirklichkeit ihr zu verdanken. Ohne Laureen wäre er in Seelenqualen und Selbstmitleid versunken.
Sie war eine ganz gewöhnliche junge Frau aus Wales gewesen, die ihn in dem britischen Lazarett einfach nur angelächelt hatte. Immer wieder – obwohl eine Erwiderung ausgeblieben war.
Nach seinem Sturz hatte sie sich hingebungsvoll um ihn gekümmert. Sie hieß Laureen Moore. Ihr volles Haar trug sie im Nacken zu einem großen Knoten hochgesteckt.
Acht Männer aus ihrer nächsten Familie hatte ihr der Krieg genommen. Ein Bruder starb im Lazarett vor Bryans Augen in ihren Armen. Außerdem Vettern, zwei Brüder, ein Onkel und ihr Vater, von dem sie noch immer mit traurigem Blick erzählte. Sie wusste, was Trauer war, und sie ließ Bryan in Frieden mit seiner Trauer leben. Ihre Haltung, man solle die Vergangenheit ehren, aber im Hier und Jetzt leben, war charakteristisch für ihre Persönlichkeit.
Dafür – und für so vieles andere – liebte Bryan sie.
Doch Bryan zahlte auch einen Preis dafür: Mit seiner Vergangenheit war er allein geblieben, mit allem, was damals geschehen war, mit seinen Albträumen und seiner Trauer. Niemals wieder hatte er die Familie Teasdale besucht. Obwohl Bryan und Laureen nur wenige Straßen von James’ Familie entfernt wohnten, sprach Bryan nie über die Teasdales und über das, was geschehen war.
Doch das Leben im Hier und Jetzt verstand Laureen meisterhaft für sie beide zu organisieren. Ohne Laureen hätte sich Bryans Leben anders entwickelt.
»Warum befasst du dich eigentlich immer noch mit dem Durchfall und den Darmverschlingungen der Reichen, Bryan, wenn du gar keine Lust dazu hast?« Mit dieser Bemerkunghatte sie vor Jahren eine neue Ära eingeläutet. »Die sind doch nur sauer auf dich, wenn du ihnen ihre Pralinen, ihre Zigarren und ihren Whisky verbietest«, hatte sie lakonisch festgestellt
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