Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
und lachend akzeptiert, dass sie damit riskierten, in Zukunft finanziell knapsen zu müssen. Keine Woche später hatte Bryan eine Annonce aufgegeben, in der er seine Praxis zum Verkauf anbot.
Anfangs brachte ihm die Forschung tatsächlich nicht viel ein, aber Laureen beklagte sich nicht. Im Notfall, wusste sie, konnten sie sich der finanziellen Unterstützung ihrer Schwiegermutter gewiss sein.
Als sich schließlich der Erfolg einstellte, war der gleich überwältigend.
»Ach, Dad!«, hatte seine Tochter Ann gestöhnt, als er endlich ein Büro in London einrichtete. »In Lambeth? Das ist doch keine Gegend, wo man einfach mal bei dir vorbeischauen kann. Warum denn nicht Tudor Street oder Chancery Lane?« Ann war ein reizendes, offenes Mädchen. Ihr Interesse an Leichtathletik und vor allem an den gut gebauten Sportlern hatte dazu geführt, dass Bryan neben seiner Forschungs- und Unternehmertätigkeit doch immer noch als Spezialist für Sportmedizin praktizierte.
Sein Spezialgebiet waren Ernährungspläne und die Behandlung akuter Magenverstimmungen. Sportler mit Magenproblemen gingen nicht zu den Fachärzten auf der Harley Street, sondern kamen zu ihm.
Alles in allem hatten sie ein gutes Leben.
Bryan zündete sich noch eine Zigarette an. Er sah Wilkens’ gelbe Finger vor sich, damals beim Verhör. Er selbst hatte in jungen Jahren nicht geraucht. Jetzt nahm er einen tiefen Zug. Dass Wilkens ausgerechnet heute aufgetaucht war, grenzte an einen übernatürlichen Zufall. Der Albtraum der letzten Nacht steckte ihm noch in den Knochen. Obwohl die Träume jedes Mal anders waren, blieb ihre Quintessenz doch immerdieselbe: Er hatte James im Stich gelassen. Nach diesen Träumen empfand er tagelang tiefe Scham. Oft ging er dann die paar hundert Meter von seinem Büro zum Kriegsmuseum. Neben der dort ausgestellten Not und dem Leiden ungezählter Menschen erschienen ihm seine privaten Sorgen dann so klein. Über die Jahrhunderte hatte die Menschheit immer aufs Neue fatale Fehler begangen, das Blut von Abermillionen war vergossen worden. An all das gemahnte dieser imposante Prunkbau.
Doch heute ertrug er die Ausstellung nicht.
Am gestrigen Abend hatten Delegierte des Nationalen Olympischen Komitees ihn zu Hause angerufen mit der Bitte, sich als Berater dem Ärzteteam anzuschließen, das nach München zu den Olympischen Spielen reiste.
Dieser Anruf war sicherlich der Auslöser seines Albtraums gewesen. Seit Jahren lehnte er Einladungen nach Deutschland kategorisch ab. Überhaupt wehrte er alles ab, was ihn an die schrecklichen Geschehnisse von damals erinnern könnte. Alle seine Nachforschungen hatten immer wieder zum selben Ergebnis geführt: Es hatte keinen Zweck. James war tot.
Warum also sich noch einmal damit quälen?
Und nun kamen innerhalb weniger Stunden diese Einladung, der Albtraum, Wilkens’ Besuch. Das Komitee hatte ihm diesmal nur acht Tage Bedenkzeit eingeräumt. Bis zur Eröffnung der Spiele war es noch knapp einen Monat hin. Vor vier Jahren hatte er für die Entscheidung, ob er die Sportler als Berater in Sachen akuter Magenverstimmungen zu den Spielen nach Mexiko begleiten wollte, mehr Zeit gehabt.
Harper Road, Great Suffolk Street, The Cut. Überall in der Stadt tobte das Leben.
Doch Bryan bekam von all dem nichts mit.
»Bryan! Du willst mir doch nicht erzählen, dass du bei dem Wetter in dem Aufzug draußen herumspaziert bist, weildu darüber nachdenken musstest, ob du mit nach München willst? Das ist doch absurd! Das hättest du doch auch zu Hause machen können.« Noch ein Tropfen, und Laureens Teetasse würde überlaufen. »Selbstverständlich hätte ich versucht, es dir auszureden. Aber das tue ich auch jetzt noch, das weißt du.«
»Hmhm.«
»Nach Mexiko habe ich nämlich keine Lust mehr auf das Gemaule.«
»Gemaule?« Er sah sie an. Sie war beim Friseur gewesen.
»Zu heiß, zu viele Menschen. Idiotischer Zeitplan.« Sie spürte seinen Blick. Dann sah er wieder weg.
»In Deutschland ist es nicht heiß.«
»Du weißt, was ich meine, Bryan. Es sprechen andere Dinge gegen Deutschland. Zum Beispiel ist es dort – zu deutsch!« Der Tee lief tatsächlich über.
Reiseunlust hatte schon immer zu ihren Gemeinsamkeiten gehört. Laureen wollte nicht reisen, weil sie Angst vor dem Unbekannten hatte, und Bryan, weil er Angst vor der Begegnung mit dem Bekannten hatte.
Wenn Laureen eine Reise Bryans nicht verhindern konnte, begleitete sie ihn und sorgte dafür, dass alles so schnell und
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