Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
irgend möglich vermieden hatte. Beim bloßen Gedanken daran konnte ihm der Schweiß ausbrechen und er bekam einen trockenen Mund und wurde von Unruhezuständen geplagt.
»Sie sind Kanadier, Mr. Welles«, riss sich Bryan zusammen. »Fraserville am Lawrence River. Deutsche Mutter, englischer Vater, französischsprachiges Umfeld.«
»Beste Voraussetzungen für eine Karriere in Europa. Trotzdem gehört Frankreich nicht zu Ihrem Vertriebsgebiet. Warum?«
»Zu umständlich. Meine Frau möchte mich hin und wieder auch ganz gerne einmal sehen, Mr. Scott. Sie ist klüger als ich.«
»Und sie ist auch der Grund dafür, dass Sie in Hamburg und nicht in Bonn gelandet sind?«
Fowles bemühte sich zu lächeln, sah aber immer wieder auf die Uhr. Welles’ privater Hintergrund war doch in diesem Zusammenhang von keinerlei Belang.
»Ich bin ausgebildeter Apotheker und hatte mich im Zweiten Weltkrieg als solcher freiwillig zum britischen Sanitätskorps gemeldet. 1943 war ich bei der Landung von McCreerys Zehnter Armee im Golf von Salerno dabei und bin von da den ganzen Weg bis hoch nach Deutschland gekommen.«
»Und da stand sie an der Grenze und hat auf Sie gewartet?« Fowles grinste, bis er Bryans scharfen Blick bemerkte.
»Nein, nein, wir haben uns erst ein Jahr nach der Kapitulation kennengelernt. Ich habe beim Europäischen Wiederaufbauprogramm mitgearbeitet.« Bryan ermunterte ihn zu reden. Welles’ Worte eröffneten ihm plötzlich eine neue Perspektive.
Welles hatte in Dempseys zweiter Armee gedient, als diese das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreite. Er wurde immer wieder als Zeuge unter anderem in den Nürnberger Prozessen verhört, wenn es um die medizinischen Versuche der Nazis an den Häftlingen der Konzentrationslager ging. Schließlich war ihm die Aufgabe zuteil geworden, zusammen mit einem vom Nachrichtendienst gebildeten Expertenteam ehemalige Landeskrankenhäuser zu inspizieren. An dieser Stelle hatte Bryan aufgehorcht.
Hunderte von Lazaretten hatte es damals im ganzen Land gegeben. Die meisten von ihnen waren einfach verlassen worden. In der Nähe von einigen Lazaretten hate man nach dem Krieg Massengräber entdeckt, wo man im Krieg die Krüppel und die Geisteskranken verscharrt hatte.
Immer wieder war das Expertenteam zutiefst erschüttert gewesen. Selbst Patienten mit ausschließlich körperlichen Gebrechen waren dem Menschenbild der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen, auch solche aus den eigenen Reihen. Dazu kam, dass in den letzten Kriegsmonaten das Anstaltsessen vielerorts äußerst fettarm gewesen war, was zu irreparablen Schäden an den Nervenbahnen der Patienten geführt hatte.
Von den untersuchten Lazaretten konnten nur einige wenige in Süddeutschland sowie in Berlin als zumutbar eingestuft werden, in allen anderen hatten unhaltbare Zustände geherrscht.
Nach monatelanger Inspektionsarbeit war Welles emotional so abgestumpft gewesen, dass es ihm gleichgültig war, wo ersich befand, mit wem er zusammen war und was er trank. Er hatte auch nicht mehr daran gedacht, nach Kanada zurückzukehren.
Der Begriff »Vaterland« bedeutete ihm nichts mehr.
Im Krankenhaus von Bad Kreuznach hatte er eine Krankenschwester kennengelernt, eine lebenslustige junge Frau. Durch sie hatte er ins Leben zurückgefunden. Bryan musste an Laureen denken und lächelte.
Welles und die junge Frau verliebten sich und zogen zwei Jahre später nach Hamburg, wo seine Frau Familie hatte. Außerdem sah man sie in der Großstadt nicht ganz so schief dafür an, dass sie einen Besatzungssoldaten geheiratet hatte.
Welles baute sich ein Geschäft auf, das einige Jahre gut lief. Sie bekamen drei Kinder. Im Großen und Ganzen war er zufrieden.
Seine Geschichte hinterließ tiefen Eindruck bei Bryan.
Als Ken Fowles Bryan noch am selben Abend die Liste mit den ausgewählten Agenten überreichte, war Welles’ Name nicht dabei. Fowles hatte ihn geprüft und für zu leicht, zu alt, zu jovial, für zu wenig engagiert und zu kanadisch befunden.
Bryan musste die Absage nur noch unterschreiben.
Den ganzen Abend und die ganze Nacht lag der Brief auf Bryans Schreibtisch. Das Blatt Papier war das Erste, worauf sein Blick am nächsten Morgen fiel.
Welles klang nicht im Geringsten enttäuscht oder überrascht, als Bryan ihn anrief. »Ach, es wird schon gehen, Mr. Scott«, sagte er. »Aber haben Sie vielen Dank, dass Sie mich persönlich anrufen, um mir abzusagen.«
»Ihre Reisekosten werden wir Ihnen
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