Das alte Kind
nicht abschweifen zu lassen, sie schweiften nämlich so leicht ab, und dann würde sie einschlafen, das musste nicht sein.
Kein Handy. Kein Ben. Keine Mutter.
In der Reihe stimmte etwas nicht.
Kein Handy.
Das konnte nicht sein. Es musste irgendwo sein. Adrenalin sei Dank purzelten die Gedanken ab sofort weniger unkontrolliert, weniger wie Wattebäusche in einem Vakuum.
Kein Handy!
Sie durchsuchte jetzt das ganze Zimmer, jeden Zentimeter, jede Ecke. Wie sollte Ben sie anrufen, wenn sie nicht zu erreichen war? Vielleicht irgendwo verloren. Liegen gelassen. Das konnte ja passieren.
Fiona ging zur Tür und wollte sie öffnen. Sie war zu. Es war kein Traum gewesen. Sie rüttelte an der Tür und klopfte dagegen. Dann rief sie »Hallo!« und »Hilfe!«. Niemand war zu hören. Das Telefon fiel ihr ein. Sie hob den Hörer ab und wollte eine Nummer wählen, als eine Stimme zu ihr sagte: »Miss Hayward. Wie können wir Ihnen helfen?« Eine Frauenstimme.
Fiona verlangte Essen und Trinken und eine offene Tür.
»Sie sind nicht eingeschlossen«, sagte die Frauenstimme.
So ging es noch ein paarmal hin und her. Und von Fionas Handy hatte sie auch nichts gesehen oder gehört, das sei ganz sicher noch dort, wo Fiona es zuletzt benutzt hatte. Die Frauenstimme klang zickig.
Fiona suchte noch einmal alles ab. Fand nichts. Sie ging zur Tür und rüttelte daran, und im selben Moment ging sie auf. Ein Pfleger kam herein mit einem Tablett. Er grüßte knapp und stellte es auf dem kleinen Nachttisch ab. Dann verließ er das Zimmer, und Fiona rannte zur Tür. Sie öffnete sich, ganz weit und ganz leicht. Sie konnte den Gang rauf- und runtersehen, und wenn sie nur wollte, konnte sie durch die Tür gehen, aber das wollte sie gerade nicht, sie wollte essen. Die Tür weit geöffnet. Kaum war sie fertig, stand wieder der Pfleger da und fragte, ob sie noch Wünsche hätte. Ja, mein Handy, sagte sie, und er antwortete: »Es ist in Ihrem Zimmer. Sie müssen nur richtig nachsehen.« Er nahm das leere Tablett mit, nachdem er ihr gesagt hatte, dass es halb zwei Uhr am Nachmittag war, und Fiona wurde wieder so müde, dass sie dringend schlafen musste. Schlafen, das war genau das Richtige in diesem Moment.
25.
»Das geht nicht gut«, waren die besorgten Abschiedsworte von Laurence am Flughafen gewesen. Beide schielten verstohlen nach der melancholisch lächelnden Carla, die sich schon zum dritten Mal an die falsche Check-in-Schlange gestellt hatte. Diesmal ließen sich die beiden Freunde Zeit damit, sie zurückzuholen. Sie wollten sich in Ruhe verabschieden.
Als Laurence verschwunden war, ging Ben zu Carla, berührte sie vorsichtig am Ellenbogen und manövrierte sie ans Ende der richtigen Schlange. »Glasgow«, sagte er noch einmal. »Wir fliegen nach Glasgow.«
Wie verwirrt Carla Arnim wirklich war, wurde außerhalb ihres gewohnten Umfelds erst offenkundig. Ben wusste sehr bald schon, wie sich ein Kindergärtner fühlen musste. Oder ein Altenpfleger. Hoffentlich werden meine Eltern nicht so, dachte er. Und wenn, dann müssen meine Brüder ran, dachte er als Nächstes, während er beobachtete, wie Carla in der Flughafenbuchhandlung anfing, die Bücher neu zu sortieren. Im Flieger verfrachtete er sie auf den Fensterplatz, damit sie nicht im Gang herumlaufen konnte, und als sie über der Nordsee ohne Ankündigung Flugangst bekam, hielt er ihr mit Engelsgeduld eine Papiertüte vor, in die sie reinatmen konnte.
Im Bus von Glasgow nach Edinburgh dachte er darüber nach, ob er Patricia oder Roger anrufen sollte. Aber wäre das eine gute Idee? Beide waren nicht mehr Fionas Familie. Sollten sie einem Treffen beiwohnen, bei dem sich – vielleicht – Mutter und Tochter zum ersten Mal sahen? Und sollte er die beiden wirklich schon zusammenbringen, bevor ein Gentest gemacht worden war? Fiona hatte ihm eine SMS geschrieben, dass sie Carla unbedingt kennen lernen wollte. Und Carla hatte Bens Vorschlag, sie Fiona vorzustellen, mit einem Lächeln und einem Nicken freundlich aufgenommen. Auch wenn sich Ben sehr sicher war, dass Carla nicht so genau wusste, worum es ging. Je näher sie der Stadt kamen, desto unwohler wurde Ben. Laurence hatte recht gehabt. Es war ein Fehler. Wie enttäuscht, wie entsetzt würde Fiona sein, wenn sie diese verwirrte Frau vor sich sah, die erwartete, ein sechs Monate altes Baby gezeigt zu bekommen? Er hatte Fiona auf ihre SMS geantwortet: »Erwarte nicht zu viel. Sie ist vielleicht etwas verwirrt.« Und sie hatte
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