Das alte Kind
haben«, erklärte Carla. »Oder ich zu ihm, vielmehr. Mein Exmann hatte eine gerichtliche Verfügung gegen mich erwirken lassen, nachdem mir das Sorgerecht entzogen wurde. Ich durfte mich ihm auf dreihundert Meter nicht nähern. Waren es dreihundert?« Sie zuckte die Schultern. »Ich schrieb ihm Briefe, das durfte ich auch nicht, aber es war mir egal. Nur leider antwortete er nie. Bis heute nicht.«
»Dieses Foto von Ihnen«, fragte Ben. »Wie kam es dazu? Hatten Sie aus Versehen etwas weggeworfen und suchten danach?«
Carla nahm Ben die Frage nicht übel. Sie erzählte von Ella Martinek, dass diese überraschend verstorben war. Ihr war das Radio in die Badewanne gefallen. Ein schreckliches, ein tragisches Unglück.
Am Tag zuvor hatte Ella die Wohnung ausgemistet, packenweise Papier und alte Fotos weggeworfen. Carla hatte zufällig ein Blatt Papier in die Hand bekommen, das Ella beim Raustragen heruntergefallen sein musste. Es war ein alter Brief, den Carla 1980 an ihre ehemalige Nachbarin geschrieben hatte. Sie hatte diesen Brief zusammen mit anderen verfasst und Ella gebeten, diese Briefe weiterzuleiten. Offenbar hatte sie nicht dem Wunsch ihrer Freundin entsprochen. Also war Carla zur Mülltonne gelaufen, um in Ellas Sachen zu wühlen, um herauszufinden, was sie ihr noch alles verheimlicht hatte. Dabei war das Foto entstanden, das nun jeder kannte.
»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte Laurence.
Carla nickte und lachte. »Viele Briefe von mir, die sie abschicken sollte, was sie nie getan hat. Und Ellas Tagebuch. Sie hatte ein Verhältnis mit meinem Mann, das muss man sich mal vorstellen. Aber das ist alles vergeben und vergessen.« Dann sah sie auf und lächelte die beiden Männer freundlich an. »Haben Sie meine Tochter gefunden?«
Ben nahm das Foto von Fiona und legte es vorsichtig auf den Tisch. »Es gibt eine junge Frau, die auf der Suche nach ihren Eltern ist. Wir sind uns natürlich nicht sicher, aber…«
»Das bin ja ich!«, rief Carla aus, als sie das Bild sah. »Das Foto kenne ich gar nicht. Hat das auch Ella gemacht?« Sie runzelte die zerfurchte Stirn. »Das ist gar nicht Ellas Stil, wissen Sie.«
»Nein, das sind nicht Sie, das ist Ihre Tochter.«
Carla sah ihn warm an. »Meine Tochter?«
»Ja. Wir glauben, dass wir sie gefunden haben.« Ben wollte auf Fionas Foto zeigen, als Carla sagte: »Sie wollen mir also ein kleines Mädchen vorstellen, das meine Tochter sein könnte?«
Und Ben überkam ein ganz ungutes Gefühl.
Berlin, November 1993
Carla wurde wach, weil Ella geschäftig auf dem Flur herumfuhrwerkte. Hatte sie zu lange geschlafen? Sie fühlte sich noch entsetzlich müde. Blinzelnd versuchte sie, die roten Ziffern des Radioweckers zu erkennen: halb sechs Uhr morgens. Das konnte ja wohl nicht sein.
Sie schälte sich aus dem Bett und öffnete ihre Zimmertür. Der Flur war leer. Aber sie hörte Ellas Schritte im Treppenhaus. Wie sie runterging. Auf dem Boden lag ein Blatt Papier mit Carlas Handschrift. Sie hob es auf und las:
Liebe Mrs Keller,
sicher wissen Sie noch, wer ich bin.
Sie hatten diesen Brief vor dreizehn Jahren geschrieben. Ella hatte versprochen, ihn abzuschicken. Warum hatte sie ihn nicht abgeschickt?
»Was bedeutet das?«, fragte sie mit schwacher Stimme, als Ella wieder zurück in die Wohnung kam. Sie trug noch ihren Pyjama, darüber einen Bademantel. Ella nahm ihr den Brief weg und wurde rot.
»Entschuldige, das hätte ich dir sagen müssen. Eine Adresse konnte ich nicht rausfinden.«
»Eine Adresse konntest du nicht rausfinden?« Jetzt schrie Carla. »Und was, wenn das die alles entscheidende Adresse gewesen wäre?
Darüber schon mal nachgedacht?«
Ella schwieg.
»Ich hatte gerade und besonders diese Keller in Verdacht, und das weißt du auch!« Sie versuchte, Ella den Brief abzunehmen, aber sie drehte sich um und verschwand in der Küche, wo sie ihn in kleine Fetzen riss und in den Müll warf.
»Es ist vorbei«, sagte Ella. »Versteh es doch. Es ist vorbei. Niemand wird sich jemals melden und sagen: Ja, Frau Arnim, Sie haben recht, Fliss war nicht Ihre Tochter, und hier ist sie, Ihre echte und einzige Felicitas!« Sie schüttelte wütend den Kopf. »Das wird niemals geschehen, hörst du? Niemals!«
Carla starrte sie mit offenem Mund an. »Wie kommst du dazu, so was zu sagen?«
»Weil es wahr ist«, rief Ella. »Du hast dein Leben ruiniert, du hast meins gleich noch mitruiniert, weil du dich an mich geklammert hast und nicht loslassen
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