Das alte Kind
heißt das konkret – vorzeitige Vergreisung?«, fragte Carla ungeduldig. »Heißt es, Fliss wird schneller alt als andere Kinder? Dr. Ingram muss sich irren, sie ist viel kleiner, sie…«
»Jein. Es heißt nicht, dass sie schneller wächst. Es heißt nur, dass sie bereits jetzt anfängt zu vergreisen. Sie wird in wenigen Jahren an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall sterben, ganz so, als sei sie siebzig oder achtzig Jahre alt. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist nicht sehr hoch, ich glaube, sie liegt bei zehn oder zwölf Jahren. Ihre Haut wird schneller altern, ihre Haare fallen aus…«
»…ja, das sind die Symptome, die wir schon kennen.«
»Arterienverkalkung…«
»Das erklärt die Todesursachen, die Sie genannt haben.« Carla stand auf. »Ich bin keine Medizinerin, aber nicht ganz unbedarft. Was also erwartet uns in den nächsten Jahren?«
Dr. Bartholomay hob die Schultern, hilflos, wie Carla fand. »Wir müssen nach jemandem suchen, der qualifizierter ist als ich. Sobald sich Dr. Ingrams Diagnose bestätigt…«
»Neunzig Prozent sind viel in der Medizin, oder etwa nicht?«
»Sicher, aber wir sollten…«
»Und Dr. Ingram forscht auf dem Gebiet?«
»Ja, aber er ist…«
»In Harvard. Das habe ich schon verstanden. Danke, Herr Doktor. Ich kümmere mich darum. Haben Sie vielen Dank für Ihre Bemühungen.« Sie wandte sich zum Gehen. Ella folgte ihr.
Erst als sie auf dem Parkplatz waren und Ella die Beifahrertür ihres alten, schwarzen Mercedes aufschloss, um Carla einsteigen zu lassen, fühlte sie die Tränen.
»Sie wird noch als Kind sterben«, flüsterte sie.
»Sie hat noch viele Jahre Zeit«, sagte Ella.
»Aber wie werden diese Jahre aussehen? Wird sie Schmerzen haben?« Carla ließ sich auf den Autositz sinken und sah zu Ella hoch. »Kommst du mit nach Harvard?«
Ella schloss die Augen, strich sich mit einer Hand über ihr Gesicht. Ihre Hände waren heute gar nicht so schlimm von ihrer Neurodermitis geplagt, sie hatte schon seit einigen Wochen eine gute Phase. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich…ich habe keine Zeit. Ich habe Aufträge.«
»Ich bezahle dich doch«, rief Carla und erschrak darüber, wie verzweifelt sie klang.
Ella schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um Geld. Es geht um mich. Meine Arbeit. Ich habe ein Leben.«
Carla schluckte. Ich habe auch eins, wollte sie sagen, aber das stimmte nicht, nicht mehr, sie hatte ihr Leben an dem Tag aufgegeben, an dem Felicitas verschwunden war. Vielleicht arbeitete sie noch, vielleicht atmete und aß und trank und schlief sie noch, aber ihr Leben war ihr abhandengekommen, und das bisschen, was davon noch übrig sein könnte, würde verschwinden, weil sie ein todgeweihtes Kind in ihrer Obhut hatte. Wäre es nicht das Einfachste für alle, Fliss jetzt los zuwerden? Das Kind würde sowieso nur leiden. Fliss loswerden…Felicitas finden…Wieder ein Leben haben…
»Es…tut mir leid«, hörte sie Ella sagen, und sie rief sich in Erinnerung, dass sie und Ella in Wirklichkeit keine Freundinnen waren. Freundinnen bezahlte man kein Geld dafür, dass sie sich Zeit für einen nahmen.
»Schon gut«, sagte Carla und stieg aus dem Auto. »Schon gut. Ich komm schon klar.« Es klang trotzig. Als sie über den Parkplatz des Krankenhauses zum Taxistand ging, klammerte sie sich an ihre Handtasche, als gäbe es sonst keinen Halt mehr auf dieser Welt. Sie würde alleine nach Harvard fliegen, wenn es sein musste. Sie hatte so viele wichtige Dinge in ihrem Leben allein gemeistert. Sie würde es schon schaffen.
Als sie im Taxi saß, fiel ihr Frederik ein, und für eine Sekunde war sie erfüllt von dem Gedanken, mit ihm zusammen nach Harvard zu fliegen. Dann musste sie lachen, so sehr, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte.
»Wenn wir im Februar einen Termin machen, kann ich mitkommen. Da bin ich sowieso für eine Woche in New York, und von dort aus ist es nicht weit nach Harvard«, sagte Frederik und klang nicht sehr begeistert. Aber er bemühte sich immerhin.
»Ich will so schnell wie möglich mit diesem Dr. Ingram sprechen«, fuhr Carla ihn an. »Wenn es sein muss, an Heiligabend. Wir werden ja sehen, wann er Zeit hat.« Sie nahm den Hörer vom Telefon und riss die Wählscheibe bei jeder neuen Zahl an den Anschlag.
»Du kannst doch nicht jetzt anrufen, es ist…« Frederik sah auf seine Uhr und rechnete nach. »…halb sieben Uhr morgens in Massachusetts!«
»Ärzte sind um diese Zeit bestimmt wach«, entschied Carla, und tatsächlich
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