Das alte Kind
standzuhalten.
Nun lag er auf der schmalen, durchgelegenen Matratze und surfte mit seinem iPhone auf Seiten von Tierschutzorganisationen. Er recherchierte bereits zu lange, um noch mit Schock auf die Tierfotos zu reagieren. Irgendwann schützte sich das Gehirn einfach, indem es unsensibel wurde. Und er fand auch nichts Neues mehr, er hatte das Gefühl, alles schon zigmal gelesen zu haben. Auch im Bereich der Embryonenforschung fühlte er sich wie ein Profi. Aber beides würde ihn heute Nacht nicht mehr weiterbringen.
Er nahm sich den Grundriss des ImVac-Komplexes vor, den er unauffällig mit seinem iPhone abfotografiert hatte. Das quadratische, viergeschossige Hauptgebäude. Daneben die Garage. Vier jeweils rechteckige Nebengebäude, Laborgebäude, drei davon mit der höchsten Sicherheitsstufe. Sie hatten nur zwei oberirdische Ebenen und einen Keller. Die Unterkellerung der riesigen Gebäude in dem Sandboden und so nah am Küstenstreifen war aufwändig gewesen. Ben hatte sich, als die Bauarbeiten losgegangen waren, ohnehin stets gefragt, wie ImVac an die Baugenehmigung gekommen war. Geld war die Antwort.
Auf Google Maps ließ er sich den Standort von ImVac als Satellitenbild anzeigen. Er wünschte sich einen Drucker, dann hätte er das Bild leichter mit dem Grundriss vergleichen können. Aber ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Das Satellitenbild stimmte mit dem Grundriss überein. Ben legte das iPhone zur Seite. Jeder Raum hatte die ihm zugedachte Funktion. Jeder Mitarbeiter arbeitete genau an den Sachen, für die er eingestellt worden war. Jeden Monat stand, teils mit, teils ohne Ankündigung, ein behördlicher Kontrollbesuch an, bei dem genau überprüft wurde, ob die Bestimmungen für Tierversuche eingehalten wurden. Entweder zahlte Chandler-Lytton viel Geld dafür, dass diese Besuche stets reibungslos abliefen, oder er hatte wirklich nichts zu verbergen. Vielleicht war das ein Punkt, an dem er ansetzen könnte: die behördlichen Kontrolleure unter die Lupe nehmen.
Er beschloss, es für heute gut sein zu lassen. Ein freies Wochenende lag vor ihm, und er würde genug Zeit haben, über die weitere Vorgehensweise nachzudenken. Er rollte sich auf die Seite, schloss die Augen und schlief fast sofort ein.
Bis ihn sein iPhone weckte.
»Können wir uns treffen?«, fragte Cedric.
»Was, jetzt?«, murmelte Ben verschlafen. Er sah auf die Uhr: halb drei.
»Ja.« Der Kerl klang wirklich so, als meinte er es ernst.
»Ähm, hat das nicht Zeit bis morgen Früh? Also…heute nur in später?« Dass Cedric manchmal die Nacht zum Tag machte, wusste er. Aber normalerweise sorgte er immer dafür, ausreichend Schlaf zu bekommen, um halbwegs stabil durch den nächsten Tag zu kommen. Warum also machte er diese Nacht durch?
»Es hat keine Zeit.«
»Das ist aber jetzt hoffentlich mal so richtig wichtig«, brummte Ben und setzte sich auf die Bettkante.
»Ist es. Sie haben meinen Vater gefunden.« Cedric legte auf.
Privatklinik Dr. Bengarz, Kanton Zug, März 1980
Natürlich hatte sie sofort eingewilligt, als Dr. Bartholomay und sein Kollege aus der Psychiatrie ihr nahegelegt hatten, in eine Klinik zu gehen. Jeremy würde ihre Arbeit machen. Auf sie legten die Kunden im Moment ohnehin keinen Wert. Und in der Klinik würde sie Zeit haben, Pläne zu schmieden, wie sie ihre Tochter finden konnte. Felicitas konnte ja schlecht vom Erdboden verschwunden sein.
Als Erstes hatte sie einen langen Brief an Ella geschrieben, um ihr zu sagen, wie sehr sie sie als Freundin vermisste. Ella hatte nur wenige Tage später zurückgeschrieben:
Ich hatte schon viel früher nach unserem Kennenlernen im Krankenhaus mit einem Anruf von Dir gerechnet. Als er dann kam, wußte ich sofort, daß Du nur anrufst, weil Du mich für irgendetwas brauchst. Und dann botest Du mir auch noch Geld…Ich fühlte mich wie eine Dienstbotin. Aber Du warst mir sympathisch, und ich hoffte, eines Tages könnte Freundschaft zwischen uns entstehen. Wenn Du nur nicht immer wieder vom Geld angefangen hättest…Ich freue mich darüber, daß Du Dich gemeldet hast. Und es wäre sehr schön, wenn Du in mir eine Freundin sehen könntest.
Bald darauf besuchte Ella sie in der Klinik. Und zum ersten Mal fing Carla an, sich einem anderen Menschen wirklich zu öffnen. In der Klinik lebte sie mit den anderen Patientinnen wie in kleinen Wohngemeinschaften. Jede hatte ihr eigenes Zimmer mit einem kleinen Bad. Auf jedem Gang gab es gemütliche Aufenthaltsräume mit kleinen
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