Das alte Kind
Cedric hatte ein Auge für geometrische Formen. Es hatte ihm vermutlich ge reicht, sie einmal zu sehen. Als Ben ihn bei einer Gelegenheit gefragt hatte, ob er ein fotografisches Gedächtnis hätte, war die Antwort gewesen: »Nein. Ich lerne nur schneller auswendig als andere Leute und kann mir Sachen besser merken. Ein fotografisches Gedächtnis geht nicht zwingend mit Intelligenz einher. Das verwechseln viele gern.« Wer Cedric nicht kannte, musste ihn für arrogant halten. Was er keineswegs war. Er prahlte nicht, er stellte nur fest.
»Sie haben mir doch den Grundriss auf Ihrem iPhone gezeigt«, sagte Cedric, ohne Ben anzusehen. Er starrte weiter auf das Satellitenbild. »Sehen Sie, diese Gebäude sind völlig anders geschnitten.«
Ben hielt das Foto des Grundrisses neben den Computerbildschirm. »Völlig anders« war völlig übertrieben. Man musste schon sehr genau hinsehen und Länge und Breite exakt nachmessen, um den Unterschied zu erkennen.
»Die Innenwand ist ein paar Fuß kürzer.«
»Das heißt, es gibt dort…was? Geheime Zimmer in jedem Gebäude?«
Cedric schüttelte den Kopf. »Dazu ist der Unterschied zum Grundriss zu gering. Ich vermute, es handelt sich um ein Treppenhaus. Wahrscheinlich gibt es ein Kellergeschoss, das nicht auf dem Grundriss verzeichnet ist.«
Ben schüttelte den Kopf. »Es ist doch wohl kaum möglich, dass dort Keller gebaut wurden, von denen niemand weiß!«
»Doch. Wenn Sie eine Firma aus dem Ausland bauen lassen – die Arbeiter sind längst verschwunden, wenn jemand Fragen stellt. Während der Bauarbeiten ist das Gebiet eingezäunt und bewacht. Ach, da gibt es Mittel und Wege. Die Frage, die uns jetzt interessiert, ist, warum gibt es Räumlichkeiten, die nicht im Grundriss verzeichnet sind? Antwort: Weil niemand reingehen soll. Nächste Frage: Was passiert dort? Sie kennen die Antwort, die ich geben würde. Und die letzte Frage: Wie kommen wir dort rein, um herauszufinden, was sich da abspielt? Haben Sie darauf eine Antwort?«
Ben hob abwehrend die Hände. »Das ist unmöglich. Aber das sagte ich bereits.«
»Unmöglich? Das wäre schlecht. Wir müssen da rein. Sie müssen da rein. Lassen Sie sich etwas einfallen.« Cedric erhob sich, vergrub die Hände in den Hosentaschen und verließ die Bibliothek.
Ben seufzte auf. Wie sollte er auf einem Gelände, auf dem es vor Überwachungskameras nur so wimmelte, unbemerkt in ein streng gesichertes Gebäude gelangen, dort eine versteckte Treppe finden, deren Existenz nicht einmal sicher war, die dann vermutlich in strengstens bewachte unterirdische Labors führte? Das Ganze war absolut unmöglich und klang auch nicht gerade nach Spaß. Er starrte wieder auf das Satellitenbild und stellte sich vor, wie die Männer vom Sicherheitsdienst rund um die Uhr auf die vielen Bildschirme starrten. Es gab keine Sekunde, in der das Gelände nicht vollständig überwacht wurde. Keine Möwe konnte dort landen, ohne dass sie aus schätzungsweise fünf Kamerawinkeln gefilmt wurde. Nein, es war unmöglich.
Es sei denn, Ben fand einen Weg, das Sicherheitssystem für ein paar Stunden lahmzulegen.
»Klingt gut«, sagte Cedric und starrte aus dem Fenster der Bibliothek. Die Reporter hatten aufgehört, sich vor der Einfahrt gegenseitig zu zerquetschen. Jetzt standen sie gesellig beieinander, tranken Tee aus Thermoskannen und plauschten. »Aber das würde einige Zeit in Anspruch nehmen?«
Ben nickte. »Zeit ist aber doch nicht unser Problem, oder? Es wird ohnehin eine Weile dauern, bis das Testament vollstreckt ist. Die Verhandlungen, wem was zugesprochen wird, lassen sich bestimmt auch noch künstlich in die Länge ziehen. Und rückwirkend ließe sich doch auch einiges machen.«
Cedric nahm den Blick nicht von den Reportern. »Ja, wahrscheinlich haben Sie recht. Ich fürchte, ich habe einfach nur Angst.«
»Angst wovor? Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, ist, dass Sie mit der Hälfte des Geldes Ihres Vaters dasitzen und nie wieder arbeiten müssen.« Ben hoffte auf ein Lächeln, aber Cedrics Blick blieb starr nach draußen gerichtet.
»Was, wenn er sein Testament noch einmal geändert hat und ich nichts bekomme? Ich traue es ihm zu.«
Darauf hatte Ben nicht viel zu sagen. Er traute es Cedrics Vater nämlich ebenfalls zu. »Wir brauchen Zeit, so oder so. Wenn Chandler-Lytton etwas merkt, bin ich draußen, und dann ist es sowieso vorbei. Dann können Sie es nie beweisen, falls es etwas zu beweisen gibt.«
»Ich weiß, dass ich recht
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