Das alte Kind
der North Bridge herumbalanciert war. Der innerstädtische Verkehr war fast zum Erliegen gekommen, weil die Polizei alle Fahrzeuge, die über die Princes Street und die Royal Mile kamen, großräumig umleitete. Krankenwagen und Feuerwehr standen bereit, und am Abend stieg sie einfach von der Brüstung und ließ sich abführen. Obwohl sie behauptet hatte, es wäre alles nur eine Performance für ein Kunstprojekt gewesen, hatte man sie vorsichtshalber ein paar Wochen in der Psychiatrie behalten.
Rückblickend war schwer zu sagen, ob Fiona die Wahrheit gesagt hatte. Ben wusste nicht, ob sie es wirklich geplant hatte, aber fest stand, dass sie mit dieser Aktion Kultstatus bei nicht wenigen Leuten erlangt hatte. Es gab einen Videoclip und unzählige Fotos im Netz, sodass es Ben manchmal vorkam, als sei er dabei gewesen: Fiona in hautengen Jeans und einer luftigen flaschengrünen Bluse, das Haar zerzaust und offen, wie sie mit ausgebreiteten Armen auf der Brüstung stand und sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließ. Als gäbe es sonst nichts auf der Welt, nur sie und die Sonne. Ihr Schatten, ein perfektes Kreuz, fiel auf den Bürgersteig und die Straße, wo uniformierte Polizisten und Sanitäter in vorsichtigem Abstand warteten, was wohl passieren würde. Auf einem Foto, das Ben einmal in irgendeiner Galerie in Posterformat gesehen hatte, waren einige Polizisten zu sehen, wie sie sich miteinander unterhielten, rauchten, ein Bild des Friedens, während Fiona unverändert auf der Brüstung stand, irgendwas zwischen Sonnenanbeterin und Gekreuzigte.
Eine andere, weniger bekannte Geschichte hatte beunruhigende Ähnlichkeit mit den Ereignissen des vergangenen Wochenendes. Fiona hatte eine Überdosis Schlaftabletten genommen, es sich dann aber anders überlegt und den Notruf gewählt. Mit stoischem Gleichmut hatte sie sich den Magen auspumpen lassen und danach jeden wissen lassen, dass sie eine Therapie machte. Eine dringend notwendige Therapie außerdem, da sie den Tod ihrer Mutter immer noch nicht verkraftet hatte und sich von ihrem Vater entfremdet fühlte. Und für den Fall, dass es immer noch Leute gab, die es nicht verstanden hatten, erklärte sie noch mal lang und breit, dass ein Selbstmordversuch in den allermeisten Fällen ein Hilfeschrei der Seele sei.
Die Zahl ihrer Liebhaber war daraufhin sprunghaft angestiegen. Und Ben hatte immer gedacht, Männer machten einen Bogen um Problemfrauen. Bis er Fiona getroffen hatte, war er jedenfalls dieser Meinung gewesen.
Und ja, wie sollte DS Hepburn vor diesem Hintergrund Fionas abenteuerlichen Geschichten glauben? Wer würde, wenn er einen Mord plante, ein so hohes Risiko eingehen und auf diese Weise einen Selbstmord fingieren? Viel Sinn ergab Fionas Theorie wirklich nicht. Und doch saß er hier, neben ihr, hielt ihre Hand und sorgte sich, wenn er ehrlich war. Schließlich war Mòrag nun tot, ermordet in Fionas Mantel, vermutlich sogar auf dem Weg zu einer Verabredung, die sie als Fiona getroffen hatte. War es ein Zufall, dass sie unter der North Bridge gestorben war?
»Was ist eigentlich mit diesem Psychiater, diesem Dr. Lloyd?«, fragte Ben.
»Er leitet ein privates Krankenhaus, nicht weit von den Meadows entfernt. Dr. Garner hatte ihn ihr empfohlen. Wollen Sie das nicht lieber selbst erzählen, Miss Hayward?«
Fiona zuckte die Schultern. »Ich kannte meine Tante bis vorgestern gar nicht. Sie hat mir viele Dinge über meine Mutter erzählt, die mir neu waren, weil« – sie stockte – »mein Vater sie mir verschwiegen hatte. Das und noch ein paar andere Dinge haben mich etwas aus der Fassung gebracht.«
»Reden Sie darüber, Fiona«, sagte Hepburn.
»Aber gern, Isobel.« Fiona redete. Schien sich über die Aufmerksamkeit zu freuen. Erzählte von ihrem Vater, der gar nicht ihr Vater war. Dass ihre Mutter eine Weile verschwunden war. Dass es in ihrem Leben so etwas wie einen blinden Fleck gab. Sie kannte ihre Wurzeln nicht, würde vielleicht nie erfahren, wer ihr Vater sei, weil ihre Mutter dieses Geheimnis mit ins Grab genommen hätte. Trotzig sprach sie davon, wie ihre Tante ihr eröffnet hatte, dass ihre Mutter sich umgebracht hatte. Kein Unfall, nein, ein Selbstmord.
Es war morgens um halb drei, als Fiona mit angezogenen Beinen auf ihrem Stuhl in dem nackten Vernehmungsraum saß, die Knie umklammerte und stur vor sich hinstarrte, während Ben ihr ab und zu eine Dose Cola unter die Nase hielt, die er ihr besorgt hatte, von der sie dann aber doch nichts wollte. Weil
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