Das alte Kind
sagte Ben. »Im Juli 1978 kam das erste Baby durch In-vitro-Fertilisation zur Welt. In Großbritannien. Patrick Steptoe, ein Gynäkologe, entwickelte die Methode zusammen mit einem Biologen, Robert Edwards. Steptoe war Vorstand einer Klinik für reproduktive Medizin in Oldham. Zu der Zeit war auch Chandler-Lytton an genau derselben Klinik.«
»Und vier Monate, bevor Steptoes erstes künstliches Baby zur Welt kommt, hat Chandler-Lytton das Resultat einer erfolgreichen IVF namens Fiona in den Armen? Und keiner würde je davon erfahren?«
Fiona war blass, und als Ben vorsichtig mit einem Finger über ihre Hand strich, fühlte er, wie kalt ihre Haut war. »Es ist unwahrscheinlich. Nicht unmöglich«, sagte er. Fiona reagierte nicht. »Es würde nur nicht erklären, warum sowohl Eizelle als auch Samenspende nicht von den Leuten stammen, die Fiona dann als Kind bei sich aufnehmen.«
»Angst vor den eigenen Erbinformationen«, sagte Patricia und klang sehr überzeugt. »Meine Schwester hatte Angst, sie könnte einmal ein Kind bekommen, das wie unser Bruder Philip wäre. Sie war Ärztin, sie wusste eigentlich, dass Trisomie 21 nicht vererbt wird, sondern ein Fehler ist, der beim Zusammenbauen der Erbinformation geschieht. Trotzdem blieben Zweifel. Sie sagte immer: ›Was wissen wir denn schon über unsere Gene? Wir wissen doch viel zu wenig.‹«
Ben hob die Augenbrauen. »Wo ist Ihr Bruder heute?«
»Er lebt nicht mehr. Fiona und ich waren vorletztes Wochenende an seinem Grab, und ich habe ihr von ihm erzählt.«
Fiona verdrehte die Augen. »Ein Onkel, von dem ich nie erfuhr, der jetzt aber doch nicht mehr mein Onkel ist.« Sie versuchte es mit Zynismus. Vielleicht ein gutes Zeichen.
Ben dachte rasch nach. Hatte Victoria sich künstlich befruchten lassen, um ein Kind zu bekommen, bei dem die Wahrscheinlichkeit eines Down-Syndroms ausgeschlossen werden konnte? Waren sie in der Genetik damals schon so weit? Noch bevor das offizielle erste IVF-Kind geboren war? Und Chandler-Lytton: Hatte er – abseits von Steptoes Labors – überhaupt die Möglichkeit, selbst die IVF-Technik anzuwenden? Es war schon auffällig, dass sich Steptoe und Chandler-Lytton Anfang der achtziger Jahre wieder geographisch in unmittelbarer Nähe zueinander befanden: Chandler-Lyttons Labor war nur zwanzig Minuten von der Bourn Hall Clinic entfernt, die Steptoe und Edwards gegründet hatten, um der Nachfrage nach weiteren künstlichen Befruchtungen bei kinderlosen Paaren nachkommen zu können. Aber wer sagte, dass Steptoe oder Edwards wirklich persönlich mit Chandler-Lytton bekannt gewesen waren? Dass sie zusammengearbeitet hatten? Andererseits, wie sollte man hier an einen Zufall glauben? Hatte sich Chandler-Lytton Forschungsergebnisse abgeschaut? Ben hatte das Gefühl, sie befänden sich in einer Sackgasse.
»Vielleicht hat Victoria ein Kind adoptiert. Und dann hat sie sich eingeredet, es sei ihr eigenes«, überlegte er laut.
Fiona schnaufte. »Oder sie haben mich doch vertauscht«, murrte sie.
Und da kam ihm eine Idee. »Vor ein paar Monaten habe ich von Kindern in einem Krankenhaus in Nottinghamshire gelesen, die aus Versehen vertauscht worden waren. Eine Kollegin in der Redaktion hat daraus gleich eine Reihe gemacht, in der sie verschiedene Fälle vorstellte, bei denen Babys vertauscht wurden. Ich erinnere mich noch an einen Fall in Tschechien und einen weiteren in Deutschland. Beide liegen noch nicht sehr lange zurück. Und ich denke, wenn so etwas heute passiert, dann kann es auch vor einunddreißig Jahren passiert sein. Soll ich sie fragen, ob sie so weit zurück recherchiert hat? Ich kann außerdem im Archiv nachsehen.«
»Oder im Netz.« Fiona sprang auf, lief in ihr Zimmer und kam mit ihrem Laptop zurück. »Was geb ich in die Suchmaschine ein? Vertauschte Babys?«
Sie hatten über siebzehn Millionen Treffer. Fiona grenzte die Suche ein: »Berlin, vertauschte Babys«. Deutlich weniger Einträge.
Sie fügte »1978« hinzu.
Der erste Eintrag, den Fiona anklickte, lautete:
http://www.wo-ist-felicitas.de
Dies ist die Webseite von Carla Arnim. Bitte helfen Sie mir, meine Tochter Felicitas zu finden. Sie wurde 1978 in Berlin geboren und ein halbes Jahr später im Krankenhaus gegen ein anderes Kind ausgetauscht.
»Krasse Geschichte«, murmelte Fiona und klickte weiter auf der Seite herum. Sie war zweisprachig angelegt: deutsch und englisch. Carla Arnim war offenbar überzeugt, dass jemand ihr Kind gestohlen hatte, während
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