Das alte Kind
Obwohl, Salzburg ist dafür zu klein. Was hältst du von München? Das ist nicht so weit. Oder Innsbruck? Nein, Innsbruck ist ein Dorf. Wir werden schon etwas finden. Legst du überhaupt weiterhin Wert auf unsere Treffen?« Er band seine Schnürsenkel.
Sie zog die Decke enger um sich.
»Weißt du, ich dachte ja, der Reiz für dich ist, dass du die Dienstbotin für meine Frau spielst und sie gleichzeitig hintergehst. Dieser Reiz lässt früher oder später nach, da mache ich mir gar keine Illusionen.«
Und was war der Reiz für dich?, dachte Ella, brachte aber kein Wort heraus.
»Ich fliege morgen nach Österreich. Soll ich mich melden, wenn ich wieder da bin?«
Sie sagte nichts.
»Überleg es dir.« Er zwinkerte ihr zu, als sei es das Normalste von der Welt, mit einer Frau monatelang eine leidenschaftliche Affäre zu haben und ihr dann zum Abschied noch freundlich zuzuzwinkern, obwohl beide genau wussten, dass dies ihr letztes heimliches Treffen war.
Ella starrte noch minutenlang an die Wand, nachdem er gegangen war. Sie konnte kaum glauben, was er ihr unterstellte. Sie hatte sich in Frederik verliebt, ehrlich und aufrichtig. Das war der Grund gewesen, warum sie sich auf die Affäre eingelassen hatte. Und warum sie Abstand von Carla genommen hatte.
Er hatte sich kurz nach Fliss’ erstem Geburtstag bei ihr gemeldet, er hatte den ersten Schritt gemacht. Und er hatte sie später gebeten, sich um seine Frau zu kümmern, als sie bereits in der Schweizer Klinik war. Carlas Brief, in dem sie sich bei ihr entschuldigte, war gerade zur rechten Zeit gekommen. Er hatte sie benutzt, er ließ sie fallen, das alte Spiel.
Hatte sie wirklich gedacht, er würde seine Frau verlassen und sie heiraten? Ja. Hatte sie. Ella fehlte es nicht an Selbstbewusstsein. Hatte sie sich auch nur eine Minute lang überlegt, wie es sein würde, die Frau an seiner Seite zu sein, über die die Zeitungen schrieben? Die Stiefmutter von Carlas Kindern? Nein, nicht eine Sekunde hatte sie darüber nachgedacht. Vielleicht war es gut, dass alles so gekommen war.
Weh tat es trotzdem.
Sie glaubte wirklich, ihn zu lieben.
Nach einer Weile stand sie auf und ging zu ihrem Telefon. Sie wählte die Nummer der Schweizer Klinik.
»Geh zu deinem Mann«, sagte sie zu Carla. »Das ist ganz bestimmt das Beste für euch beide. Wenn er nach Salzburg geht, geh mit ihm. Du willst ihn doch nicht verlieren.«
17.
Ben hoffte nur, dass Patricia Fiona im Griff hatte. Er fuhr, alle Geschwindigkeitsbegrenzungen ignorierend, nach Durham und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Es konnte nicht anders sein: Andrew Chandler-Lytton kannte Victoria. Ben hatte genau gesehen, wie sein Blick auf Victorias Porträt gerichtet gewesen war. »Tori«, hatte er gemurmelt. Und eine Tori Chandler-Lytton wurde von einer verzweifelten Frau aus Berlin gesucht, weil sie hoffte, sie könnte etwas über den Verbleib ihres verschwundenen Kindes wissen. Dieser Frau wiederum sah Fiona so ähnlich, wie nur Mütter und Töchter sich glichen.
Doch wenn man der Geschichte dieser Frau Glauben schenken durfte, dann hatte man ihr ein fremdes Kind untergeschoben, bei dem wenig später eine schreckliche Krankheit diagnostiziert wurde: Progerie, vorzeitiges Vergreisen. Die Webseite zeigte keine Fotos von dem Kind, aber Ben erinnerte sich an Berichte, die er über Greisenkinder gelesen hatte, Fotos, die er von ihnen gesehen hatte.
»Man glaubt mir bis heute nicht, dass meine Tochter vertauscht wurde. Man behauptet, ich wäre mit der Krankheit meines Kindes nicht fertig geworden«, hatte Carla Arnim auf ihrer Seite geschrieben. Sollte es also wirklich wahr sein, dass Fiona ihre richtige Tochter war – was hatte diese Frau nur durchgemacht?
Andrew Chandler-Lytton und seine erste Ehefrau, von der nichts in den offiziellen Lebensläufen erwähnt war, hatten ein falsches Kind aus Berlin mitgenommen. Victoria hatte vielleicht die Erkrankung im allerfrühesten Stadium bemerkt. Als Ärztin hatte sie einen Blick dafür, vielleicht als Mutter die Angst im Nacken, das Kind könnte behindert sein. Wie Victorias Bruder. Die Angst, es könnte zu einem Pflegefall werden. Das kranke Kind – Fehler der Eltern? Hatte sie es so gesehen? Nicht als tragische Laune der Natur, sondern als persönliches Scheitern?
Chandler-Lytton musste es als Vater gewusst haben. Er musste bemerkt haben, dass seine Frau eines Tages mit einem fremden Kind nach Hause gekommen war. Waren sie sofort aus Deutschland verschwunden?
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