Das alte Kind
Es war eher ein Experiment gewesen als Notwendigkeit, und Fiona hatte jeden Tag gedacht: Ich kann gehen, wann ich will. Aber warum sollte ich gehen?
Diesmal war es anders. Diesmal hatte sie sich für die Klinik entschieden, weil es ihr wirklich schlecht ging. Und diesmal hatte sie nicht das Gefühl, dass sie gehen konnte. Sie fragte deshalb: »Kann ich gehen, wann ich will?« Und Patricia versicherte ihr: »Jederzeit, du bist ganz frei in dem, was du tust.« Trotzdem konnte, wollte sie es nicht glauben. Sie klammerte sich ängstlich an Patricias Arm, obwohl sie nicht einmal wusste, ob sie dieser Frau vertrauen konnte. Sie und Patricia kannten sich kaum länger als eine Woche. Aber das war, gemessen an anderen Kontakten in Fionas Leben, eine halbe Ewigkeit. Man könnte fast schon von Freundschaft sprechen, dachte Fiona erbittert.
Dr. Lloyd war ein angenehmer Mann, keine zehn Jahre älter als Fiona. Er sah gut aus, nicht aufregend, aber gut, hatte eine angenehme Stimme und eine verbindliche Art. Ein Händedruck von der Sorte »Ich kann Ihnen helfen«. Es funktionierte auch: Fionas Angst legte sich. Es war etwas in seinem Akzent, das sie aufhorchen ließ. Etwas zu posh, etwas zu public school. Wahrscheinlich einer von der Sorte, die glaubte, ihre Wurzeln verbergen zu müssen. Wenn der wüsste, wie froh er sein konnte, überhaupt Wurzeln zu haben.
Sie fragte ihn gleich, wo er herkam. Er lächelte und sagte: »London«, obwohl er gar nicht nach London klang, das hatten sie ihm sicher in der Schule abgewöhnt. »Welche Schule?«, fragte sie sardonisch, und es kam ein Zwinkern in seine Augen, als er sagte: »Da, wo Stephen Fry rausgeflogen ist.« Gute Antwort. Sie fragte, wie es mit ihren Medikamenten aussehen würde, ob sie weiterhin Diazepam nehmen sollte, und er sagte, er würde sich lieber mit ihr auf ein Medikament einigen, das nicht abhängig mache, es gäbe da wunderbare neue Entwicklungen, aber nur, wenn sie einverstanden sei. Sie nickte, ja, warum nicht, was sollte sie schon dagegen haben, solange die Wirkung eintrat. Und Patricia hielt die ganze Zeit ihre Hand.
Patricia, beobachtete Fiona, fuhr total auf Dr. Lloyd ab. Altersunterschied hin oder her, die alte Dame – okay, so alt nun auch wieder nicht –, die ältere Dame stand auf den jungen Kerl, und als Fiona nachfragte, woher sie sich kannten, erzählte Patricia begeistert von einem Kongress in Manchester zum Thema Depression und Paartherapie. Oder so ähnlich.
»Er hat einen Vortrag gehalten, der war sehr beeindruckend. Ich hielt auch einen Vortrag, genauso beeindruckend, und so sind wir am Abend ins Gespräch gekommen. Er erzählte mir von seiner Klinik. Natürlich nicht seine Klinik, aber er leitet sie, und das, wo er doch noch so jung ist! Er hat hervorragende Referenzen.«
Wenn es etwas gab, das Fiona von Grund auf misstrauisch werden ließ, dann waren es Lobeshymnen. Da steckte mehr dahinter: Patricia war total verknallt in ihn.
Aber hatte Fiona im Moment eine Wahl? Und machte es einen Unterschied, ob sie nun hier herumsaß und aus dem Fenster starrte, bis sie der Meinung war, sie könnte sich dem Leben da draußen wieder stellen, oder ob sie woanders saß? Hier war es außerdem ganz hübsch. Für Privatpatienten eben. Roger würde bezahlen.
Dr. Lloyd zeigte ihr ein Zimmer. »Gefällt es Ihnen? Dann ist es Ihres.« Ja, es gefiel ihr. Es hatte ein Bett und einen Tisch mit zwei Stühlen, zwei Sessel, Fernseher, Stereoanlage, eigenes Bad, eine kleine Ecke zum Teekochen. Es war wie ein Hotelzimmer, nur die Möbel waren billiger und nicht sehr schick. Nein, es war okay, die Aussicht ging auf die Meadows, man konnte den Leuten beim Spazierengehen zusehen, den Studenten, wie sie zwischen Seminaren und ihren schuhkartongroßen Unterkünften hin- und herhasteten. Sie würde schon klarkommen.
Er zeigte ihnen noch den Aufenthaltsraum auf ihrem Stockwerk, die kleine Küche, den Speisesaal und die Räume, in denen die Therapiesitzungen stattfanden. Fiona wollte keine Gruppensitzungen, das sagte sie gleich, alles, nur keine Gruppensitzung, sie hatte keine Lust auf die Probleme anderer, das waren nicht ihre Probleme. Sie hatte nicht vor, sich hier zu langweilen, und damit basta. Natürlich akzeptierte Dr. Lloyd so ziemlich alles, nur auf einem bestand er: dass sie von ihren Tabletten entwöhnt wurde. »Deal«, sagte Fiona, und alle freuten sich. Sie rang sich ein Lächeln nach dem nächsten ab, bis sie endlich allein war. Patricia hatte ihr geholfen, die
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