Das alte Kind
dass ich verrückt bin?« Sie lehnte sich an die Spüle, nahm ein Geschirrtuch in die eine Hand, eine Tasse in die andere, trocknete sie aber nicht ab.
Keine moderne Einbauküche, sondern ein Sammelsurium aus alten Schränken und noch älteren Elektrogeräten. Auch die Tassen, Teller und Gläser, die Ben in einer wackeligen Biedermeiervitrine entdeckte, waren bunt zusammengewürfelt. Carla war offenbar eine fleißige Flohmarktkundin. Oder suchte sie sich die Sachen aus dem Müll? Er musste an das Bild denken, das Laurence ihm im Auto gezeigt hatte. Andererseits war alles sehr sauber und ordentlich. Würde eine Frau, die Wert auf Sauberkeit legte, ihre Sachen aus Mülltonnen zerren?
Ben suchte noch nach Worten, um sie auf das, was er ihr zu sagen hatte, vorzubereiten. »Erst mal vielen Dank, dass Sie mit uns reden wollen«, begann er etwas hilflos.
»Ich freu mich doch, wenn jemand vorbeikommt. Ich hätte gerne mehr Besuch, aber die Leute haben Angst vor mir. Daran ist dieses dumme Bild schuld, das vor über fünfzehn Jahren in der Zeitung war. So lange ist es her, und sie meiden mich immer noch, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.« Sie sprach fließend Englisch mit einem unverkennbaren amerikanischen Akzent. In den USA aufgewachsen, erinnerte sich Ben.
»Haben Sie denn niemanden, mit dem Sie reden?«, fragte Laurence.
»Es gibt eine Frau, die freundlich zu mir ist. Sie ist Künstlerin und wohnt nicht weit von hier. Ihr ist es egal, was die Leute über mich sagen. Sie heißt Astrid.«
»Roeken?«, fragte Laurence. »Ich kenne sie auch. Sind Sie gut mit ihr befreundet?«
Carla zuckte die Schultern. »Wir reden manchmal. Wirkliche Freunde habe ich keine. Nur ein paar wenige Menschen, die hin und wieder mit mir sprechen. Ich habe unsichtbare Freunde.«
Sie zwinkerte ihnen zu und erzählte vom Netz, das ihr half, die Tage zu überstehen. Dort, sagte sie, lerne sie Leute kennen, die nicht wussten, wer sie war und deshalb ganz unvoreingenommen auf sie zukamen. Zwar nur virtuell, aber immerhin. Sie hatte gelernt, dass sie nicht gleich jeden mit ihrer Geschichte überfallen durfte, wenn sie Freundschaften schließen wollte. Auch wenn sie es nicht richtig fand, Freundschaften mit einer Art Lüge zu beginnen. Aber so war es nun einmal. Und zu Treffen im richtigen Leben kam es fast nie.
»Ein Freund von Astrid hat meine kleine Webseite gestaltet und mir ein E-Mail-Konto eingerichtet. Es passiert nicht viel. Eigentlich passiert seit Jahren so gut wie nichts mehr. Ich will sie aber nicht einfach löschen, weil ich die Hoffnung nicht aufgeben will. Und vielleicht auch, weil ich meinen Exmann ärgern will. Ich will ihm zeigen, dass ich mich nicht unterkriegen lasse. Kommen Sie deshalb? Wegen Felicitas?«
Behutsam tastete er sich vor. Berichtete von Fiona, einer jungen Frau, die offenbar unter ungeklärten Umständen zu ihren Adoptiveltern gekommen war und nun auf der Suche nach ihren echten Eltern war. Sie wäre in Berlin geboren, etwa zu der Zeit, zu der auch Felicitas geboren worden war, und durch Zufall, behauptete Ben, sei Fiona über Carlas Webseite gestolpert.
Carla reagierte überraschend gelassen. Sie stand auf, bot den beiden jungen Männern Kaffee an, erzählte von den vielen Frauen, die sich im Laufe der Jahre bei ihr gemeldet hatten, weil sie dachten, sie seien adoptiert, ihre Eltern nicht die leiblichen Eltern. Auch wenn sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, so hatte sie es sich doch abgewöhnt, bei jeder neuen Anfrage in freudige Erwartung zu verfallen.
»Haben Sie noch Kontakt zu Ihrem Exmann?«, fragte Ben, nachdem sie Kaffee gekocht hatte.
Carla schüttelte den Kopf. »Weder zu ihm noch zu meinem Sohn.« Ihr Blick schweifte aus dem Küchenfenster, und statt der grauen Häuserwand gegenüber schien sie in eine ferne Vergangenheit zu sehen, die sie wieder melancholisch lächeln ließ. »Junior nannten wir ihn. Er hieß eigentlich Frederik wie sein Vater. Frederik Jacob Arnim. Mein Großvater hieß Jacob. Aber wir nannten ihn immer nur Junior.«
»Was macht er jetzt?«, wollte Laurence wissen. »Künstler oder Musiker?«
Carla schüttelte den Kopf. »Medizin! Er schien kein Talent zu haben, weder für Musik noch für die Kunst. Vielleicht wird er mal Wissenschaftler, haben wir früher gesagt, aber auch nur im Spaß. Er hatte wirklich gar keine besonderen Talente.«
»Und er will keinen Kontakt zu seiner Mutter?«, hakte Ben nach.
»Offenbar nicht. Erst durfte er keinen Kontakt zu mir
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