Das alte Königreich 01 - Sabriel
Korridor der Hände zurück. Die Toten hatten mit ihrem Lärm aufgehört, doch nun war da etwas anderes, das Touchstone erst erkannte, als seine Ohren frei von Wasser waren.
Es war Gelächter – Gelächter aus dem Dunst, der nun dicht über dem Wasser wallte und immer näher kam, bis der Mordicant von ihm verschlungen wurde.
»Hat mein Bluthund dich erschreckt, kleiner Bruder?«, erkundigte sich eine Stimme aus dem Dunst.
»Au!«, entfuhr es Sabriel, als sie Moggets Krallen auf ihrem leiblichen Körper spürte. Abhorsen blickte sie mit hochgezogener silbergrauer Braue fragend an.
»Etwas hat meinen Körper im Leben berührt«, erklärte sie. »Mogget, glaube ich. Ich frage mich, was sich dort tut.«
Sie standen am Rand des Todes, an der Grenze zum Leben. Niemand hatte versucht sie aufzuhalten, und so vermochten sie das Erste Tor mühelos zu durchschreiten. Vielleicht schreckten die Toten beim Anblick von gleich zwei Abhorsen zurück…
Jetzt verharrten sie beide. Sabriel wusste nicht, warum. Irgendwie schien ihr Vater ins Leben sehen oder schlussfolgern zu können, was dort geschah. Er stand leicht nach vorn gebeugt, als drücke er das Ohr an eine nicht vorhandene Tür, um zu lauschen.
Sabriel andererseits hatte sich hoch aufgerichtet und hielt mit allen Sinnen Ausschau nach Toten. Die zerschmetterten Steine machten diesen Teil des Todes zu einer einladenden Straße ins Leben. Sie hatte erwartet, hier viele Tote vorzufinden, die das »Loch« nutzen wollten. Doch dem war nicht so. Sie und ihr Vater schienen sich ganz allein in dem grauen, eintönigen Fluss zu befinden, in dem sich nur die Wellen und Strudel bewegten.
Abhorsen schloss die Lider und konzentrierte sich noch angestrengter, bis er die Augen schließlich aufriss und Sabriel leicht am Arm berührte.
»Es ist fast Zeit«, sagte er leise. »Wenn wir herauskommen, möchte ich, dass du – Touchstone am Arm fasst und mit ihm zur Südtreppe läufst. Halte auf keinen Fall an! Wenn ihr draußen seid, steigt den Schlossberg hinauf zum Westhof. Er ist jetzt nur noch ein leeres Feld – Touchstone weiß, wie ihr dort hinkommt. Wenn die Clayr richtig aufpassen und die Zeit nicht durcheinander bringen, wird dort ein Papiersegler…«
»Ein Papiersegler!«, unterbrach ihn Sabriel. »Aber ich habe ihn zerstört!«
»Es gibt mehrere«, erklärte ihr Vater. »Die Abhorsen, die ihn gebaut hat – sie war die sechsundvierzigste, glaube ich –, lehrte andere, solche Segler herzustellen. Einer müsste dort sein. Die Clayr werden ebenfalls eintreffen, oder zumindest ein Bote, der dir sagt, wo Kerrigors leiblicher Körper in Ancelstierre zu finden ist. Fliegt so dicht an der Mauer wie möglich, überquert sie, findet den Körper – und vernichtet ihn!«
»Was wirst du tun?«, wisperte Sabriel.
»Hier ist Saraneth«, antwortete Abhorsen, ohne ihr in die Augen zu schauen. »Gib mir dein Schwert und – Astarael.«
Die siebente Glocke. Astarael, die Klagende.
Sabriel machte keine Anstalten, ihm die Glocke auszuhändigen. Abhorsen schob Saraneth in ihren Beutel und schloss den Gurt. Er wollte den Beutel öffnen, in dem sich Astarael befand, doch Sabriels Hand schloss sich fest um seine.
»Es muss eine andere Möglichkeit geben!«, rief sie. »Wir können alle miteinander entkommen…«
»Nein«, entgegnete Abhorsen fest. Sanft löste er ihre Hand. Sabriel ließ es zu und nahm Astarael vorsichtig vom Bandelier, achtete aber darauf, dass sie nicht läuten konnte. »Wählt der Schreitende den Pfad oder der Pfad den Schreitenden?«
Stumpf händigte Sabriel ihm ihr Schwert aus – sein Schwert. Ihre leeren Hände hingen an ihren Seiten.
»Ich bin im Tod bis zum Abgrund des Neunten Tores gegangen«, sagte Abhorsen leise. »Ich kenne die Geheimnisse und das Grauen der Neun Zonen. Ich weiß nicht, was dahinter liegt, aber alles, was lebt, muss sich zur rechten Zeit dorthin begeben. Das ist die Regel, die unsere Arbeit als Abhorsen bestimmt. Aber sie gilt auch für uns. Du bist der dreiundfünfzigste Abhorsen, Sabriel. Ich habe dich nicht so unterrichtet, wie ich es hätte tun sollen – lass dies meine letzte Lektion sein. Für jeden und alles gibt es eine Zeit zu sterben.«
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn, unmittelbar unter dem Rand ihres Helms. Einen Augenblick stand sie da wie eine unbewegte Marionette; dann warf sie sich an seine Brust und spürte das weiche Material seines Waffenrocks. Sie schien zu schrumpfen, bis sie wieder ein kleines
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