Das alte Königreich 01 - Sabriel
blickte auf die stillen, sonnenhellen Bäume, die ruhige große Grasfläche, die Springbrunnen, aus denen kein Wasser mehr floss. Alles sah so normal aus, so fern der verrückten, verzerrten Gruselkammer tief unter ihren Füßen.
Auch zum Himmel schaute sie, und ihr Blick folgte den Wolken, die sich aus ihrem verschwommenen Blickfeld zurückzogen. Mein Vater ist tot, dachte sie. Ich werde ihn nie mehr Wiedersehen…
»Die Straße schlängelt sich um den südwestlichen Teil des Schlossbergs«, erklang eine Stimme irgendwo in ihrer Nähe.
»Was?«
»Die Straße hinauf zum Westhof.«
Es war Touchstone. Sabriel schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Dann hob sie die Lider und betrachtete Touchstone.
Er sah schrecklich aus. Der untere Teil des Gesichts war mit Blut aus seiner zerbissenen Lippe verschmiert, sein nasses Haar klebte am Kopf, Rüstung und Kleidung hatten sich mit Wasser voll gesogen. Wasser troff auch seinen Degen hinunter, den er schräg zum Boden hin ausgestreckt hielt.
»Du hast mir nicht erzählt, dass du ein Prinz bist«, sagte Sabriel gleichmütig, als würde sie eine Bemerkung übers Wetter machen. Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme seltsam, doch fehlte ihr die Kraft, etwas dagegen zu tun.
»Ich bin auch kein Prinz«, entgegnete Touchstone und zuckte mit den Schultern. Er blickte zum Himmel hinauf, während er redete. »Zwar war die Königin meine Mutter, aber mein Vater war ein unbedeutender Edler aus dem Norden, der sich ein paar Jahre nach dem Tod ihres Gemahls ›ihrer annahm‹. Er verunglückte bei einem Jagdausflug, ehe ich geboren wurde… Sollten wir nicht weitergehen? Zum Westhof?«
»Ja, vermutlich«, antwortete Sabriel. »Vater sagte, dass dort ein Papiersegler auf uns wartet. Auch die Clayr werden kommen und uns den Weg weisen.«
»Ich verstehe«, murmelte Touchstone. Er trat näher und blickte in Sabriels leere Augen; dann nahm er ihren eigenartig schlaffen Arm und führte sie zu der Reihe von Buchen, die den Weg zum westlichen Ende des Parks säumten. Sabriel ging gehorsam mit und machte größere Schritte, als Touchstone schneller wurde, bis sie fast liefen. Touchstone ließ ihren Arm nicht los, während er immer wieder zurückblickte: Sabriel ging wie eine Schlafwandlerin mit ruckartigen Bewegungen.
Ein paar hundert Schritt von den Prunkhöhlen entfernt wichen die Buchen einer weiteren Rasenfläche. Eine Straße führte von dort aus in Serpentinen den Hang des Schlossbergs hinauf.
Die Straße war gut gepflastert, aber die Kopfsteine waren in den letzten zwei Jahrzehnten, seitdem niemand sich darum gekümmert hatte, zum Teil eingesunken oder hatten sich gehoben.
Dadurch waren viele tiefe Rinnen und Löcher entstanden. Sabriel wäre gestürzt, hätte Touchstone sie nicht gerade noch aufgefangen. Doch dieser kleine Schock schien sie endlich aus ihrer stummen Verzweiflung zu reißen.
»Warum laufen wir?«
»Weil die Beutejäger uns verfolgen«, antwortete Touchstone knapp und deutete durch den Park zurück. »Jene, die mit den bedauernswerten Kindern hierher kamen.«
Sabriel blickte in die angedeutete Richtung und sah, dass mehrere Personen langsam den Pfad entlang der Buchen kamen. Es waren alle neun Beutejäger. Sie hielten sich dicht beisammen, lachten und redeten laut miteinander, offensichtlich überzeugt davon, dass Sabriel und Touchstone ihnen nicht entkommen konnten. Wie Treiber waren sie, die das Wild in den Tod jagten. Einer von ihnen sah, dass Sabriel und Touchstone sie beobachteten, und machte eine Geste, die auf die Entfernung nicht zu erkennen, vermutlich aber obszön war. Der Wind trug das Gelächter der Beutejäger zu ihnen. Ihre Absicht war unverkennbar.
»Ich frage mich, ob sie einen Pakt mit den Toten haben.« In Sabriels Worten lag Abscheu. »Um ihre Arbeit zu machen, während die Sonne den Lebenden hilft…«
»Gutes führen sie jedenfalls nicht im Schilde«, meinte Touchstone, als sie nun schneller weiterrannten. »Sie haben Bogen, und ich wette, sie können damit schießen – im Gegensatz zu den Dorfbewohnern von Nestowe.«
»Wir können nur hoffen, dass da oben wirklich ein Papiersegler auf uns wartet…«, schnaufte Sabriel.
Sie brauchte sich nicht darüber auszulassen, was geschehen würde, wenn ihre Hoffnung sich nicht erfüllte. Weder ihr noch Touchstone stand der Sinn jetzt nach einem Kampf oder nach Chartermagie, und neun Bogenschützen würden kein Problem haben, sie abzuschießen oder einzufangen.
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