Das alte Königreich 01 - Sabriel
Mädchen war und ihm am Schultor entgegenrannte. Wie damals konnte sie das langsame Schlagen seines Herzens hören. Nur vernahm sie die Schläge jetzt wie die Körner einer Sanduhr, zählte die schwer errungenen hundert mal hundert Schläge, bis es Zeit für ihn war hinzuscheiden. Sie umarmte ihn ganz fest. Er hielt seine Arme ausgestreckt wie ein Kreuz, das Schwert in einer Hand, die Glocke in der anderen. Dann gab sie ihn frei.
Sie drehten sich gemeinsam um und stürzten hinaus ins Leben.
Wieder lachte Kerrigor. Es war ein obszönes Kichern, das zu einem irren, wilden Gelächter anwuchs, ehe es abrupt in ein Unheil verkündendes Schweigen mündete. Die Toten nahmen ihr trommelndes Klatschen wieder auf, diesmal weniger heftig, und der Dunst trieb mit grauenvoller Sicherheit voran. Der völlig durchnässte Touchstone beobachtete ihn erstarrt wie eine Maus, die von der Schlange gebannt wird. Irgendwo im Unterbewusstsein fiel ihm auf, dass es jetzt leichter war, das Weiß des Dunstes zu erkennen. Hoch oben, unter dem freien Himmel, waren die Wolken verschwunden, und der Rand der Zisterne wurde wieder von gefiltertem Sonnenschein beleuchtet. Doch sie befanden sich vierzig Schritt vom Rand entfernt…
Ein Knall hinter ihm ließ ihn zusammenzucken und herumfahren. Erleichtert erkannte er, dass Sabriel und ihr Vater ins Leben zurückkehrten. Eisflocken lösten sich wie Schneetreiben von ihnen, und die Schicht um Abhorsens Leibesmitte zerbrach in mehrere kleine Eisschollen und trieb davon.
Touchstone blinzelte, als der Raureif von ihren Fingern und Gesichtern fiel. Jetzt waren Sabriels Hände leer, und Abhorsen schwang Schwert und Glocke.
»Der Charter sei Dank!«, rief Touchstone, als sie die Augen öffneten und sich bewegten.
Doch niemand hörte ihn, denn in diesem Moment schrillte ein so schrecklicher Wutschrei aus dem Dunst, dass die Säulen erschauderten und das Wasser Wellen schlug.
Touchstone drehte sich wieder um. Er sah, wie der Dunst in Fetzen davonwehte. Der Mordicant, der sich geduckt hatte, erschien. Nur seine Augen und der lange Mund, der mit öligen Flammen blubberte, ragten aus dem Wasser. Hinter ihm, mit einer unnatürlich langen Hand auf seinem Kopf aus Sumpfton, stand etwas, das man für eine missgebildete menschliche Gestalt halten konnte.
Touchstone erkannte, dass Kerrigor versucht hatte, seinen jetzigen Körper dem des früheren Rogir ähnlich zu formen, doch entweder mangelte es ihm an Geschick oder gutem Geschmack. Er war jetzt wenigstens sieben Fuß groß, mit gewaltigem Brustkorb und schmalen Hüften. Sein Kopf besaß die Form einer gigantischen Gurke, und sein Mund reichte von einem Ohr zum anderen. Es war nicht möglich, ihm in die Augen zu schauen, denn sie waren nur dünne Schlitze, in denen das Feuer Freier Magie brannte, keine wirklichen Augen.
Doch so grotesk er aussah – er ähnelte trotz allem noch immer Rogir. Als wäre er formbar gewesen, als hätte man ihn gestreckt und verdreht…
Der grässliche Mund öffnete sich; dann stieß Kerrigor ein Lachen hervor, das abgeschnitten wurde, als er die Kiefer zuklappte. Als er dann sprach, erwies es sich, dass seine Stimme so verzerrt war wie sein Körper.
»Was habe ich ein Glück! Gleich drei Träger des Blutes – Blut zum Brechen der Charter! Drei!«
Touchstone konnte den Blick nicht von ihm nehmen. Er hörte Kerrigors Stimme, die auch jetzt noch ein bisschen wie Rogirs klang – voll, aber verdorben, feucht wie wurmiges Obst. Er erblickte beide, den neuen verzerrten Kerrigor und, in seiner Erinnerung, den anderen, wohlgeformten Körper, den er als Rogir gekannt hatte. Wieder sah er den Dolch, der den Hals der Königin aufschlitzte; er sah, wie das Blut in den goldenen Kelch strömte…
Eine Hand packte ihn, drehte ihn herum und nahm ihm den Degen aus der Hand. Er wandte sich um, holte keuchend Luft, und erblickte Sabriel. In der einen Hand hielt sie seinen Degen, mit der anderen griff sie nach ihm und zerrte ihn nach Süden. Er ließ es geschehen und folgte ihr mit weichen Knien. Alles ringsumher schien sich zu verändern. Sein Blickfeld wurde enger. Es war wie in einem Traum, den er zu vergessen versuchte.
Er sah Sabriels Vater – den Abhorsen – zum ersten Mal ohne Raureif. Er wirkte hart und entschlossen, doch er lächelte und neigte leicht den Kopf, als sie vorbeigingen. Touchstone fragte sich, weshalb er in die falsche Richtung ging – auf Kerrigor zu, wie ein Jäger auf ein lange verfolgtes und nun endlich
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