Das alte Königreich 01 - Sabriel
haben.«
»Die Windflöten?«, fragte Horyse. Er stellte die Skier auf den Boden und beendete seinen Salut. »All die Toten hier?«
»Die Flöten spielen eine Melodie, die nur im Tod gehört wird«, entgegnete Sabriel. »Sie üben den Zwang Abhorsens aus. Doch wenn er tot ist, haben die Flöten keine Macht mehr. Dann werden sie nichts mehr ausrichten.«
3
»Ich gehöre nicht zu denen, die den Überbringer einer schlechten Nachricht bestrafen.« Horyse reichte Sabriel eine Tasse Tee. Sabriel saß auf dem einzigen bequemen Sitz in dem Schützengraben, der offenbar Horyses Hauptquartier war. »Doch wie dem auch sei – Sie bringen die schlechteste Nachricht, die ich seit vielen Jahren gehört habe.«
»Wenigstens bin ich ein lebender Bote – und ein freundlicher«, erwiderte Sabriel leise. Bisher hatte sie sich nur Sorgen über das Wohlbefinden ihres Vaters gemacht, ohne über weitere Konsequenzen nachzudenken. Jetzt, da sie so viel über ihn erfahren hatte, verstand sie, dass er mehr als nur ihr Vater war, dass er für viele Leute sehr viel bedeutete und dass sie ohne ihn in große Schwierigkeiten zu geraten schienen. Ihr Bild von ihm – wie er entspannt im Sessel ihres Studierzimmers im Wyverley College saß und über ihre Schulaufgaben, über ancelstierrische Technologie und die Magie der Macht und der Nekromantie mit ihr plauderte – war nur ein kurzsichtiges Bild, ein eindimensionales Porträt.
»Wie viel Zeit haben wir noch, bis Abhorsens Schutzzauber seine Kraft verliert?«, unterbrach Horyse Sabriels Erinnerungen an ihren Vater. Ihre Vorstellung, wie er gerade nach einer Teetasse in ihrem Arbeitszimmer griff, schwand, als echter Tee aus ihrer Emailtasse schwappte und ihr die Finger verbrannte.
»Oh! Verzeihen Sie. Ich war ganz in Gedanken… wie viel Zeit wofür?«
»Für das Binden der Toten«, erwiderte der Oberst geduldig. »Wie lange dauert es, bis der Abwehrzauber seine Kraft verliert und die Toten frei sind?«
Sabriel dachte an die Unterweisungen ihres Vaters und an das antike Zauberbuch, das sie in ihren Ferien Seite um Seite auswendig gelernt hatte – das Buch der Toten. Manche Abschnitte darin ließen sie jetzt noch erschauern. Es sah eigentlich harmlos aus, in grünes Leder gebunden mit fleckigem Silberverschluss. Aber wenn man es genauer betrachtete, konnte man erkennen, dass sowohl das Leder wie das Silber mit Machtsymbolen gezeichnet waren. Es waren Zeichen des Bindens und Blendens, des Verschließens und der Gefangenschaft. Nur ein ausgebildeter Nekromant vermochte dieses Buch zu öffnen… und nur ein unbefleckter Chartermagier konnte es schließen. Ihr Vater hatte es bei seinen Besuchen mitgebracht und immer wieder mitgenommen, wenn er gegangen war.
»Das kommt darauf an«, antwortete sie bedächtig. Sie zwang sich, die Frage objektiv zu betrachten, ohne sich von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen. Sie versuchte sich an die Seiten zu erinnern, auf denen es um das Schnitzen von Windflöten ging, an die Kapitel über Musik und die Art des Klanges beim Binden von Toten. »Wenn Vater – Abhorsen – wirklich tot ist, werden die Windflöten unter dem Schein des nächsten Vollmonds auseinander fallen. Wenn er vor dem Neunten Tor gefangen ist, hält die Abwehr und das Binden bis zum nächsten Vollmond an, nachdem er hindurchgeschritten ist, oder bis ein besonders starker Geist die geschwächten Bande bricht.«
»Dann wird der Mond es uns schließlich verraten«, sagte Horyse. »Bis er voll ist, haben wir vierzehn Tage.«
»Es wäre möglich, dass ich die Toten aufs Neue binden kann«, meinte Sabriel vorsichtig. »Ich habe es zwar noch nie in diesem Ausmaß getan, aber ich weiß, wie es geht. Die Sache ist nur – wenn Vater nicht jenseits des Neunten Tors ist, will ich ihm so schnell wie möglich helfen. Und dazu muss ich in sein Haus, um ein paar Sachen zu holen und einiges nachzuschlagen.«
»Wie weit ist dieses Haus hinter der Mauer?«, erkundigte Horyse sich mit nachdenklichem Blick.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Sabriel.
»Wie bitte?«
»Ich weiß es nicht. Ich war das letzte Mal dort, als ich vier Jahre war. Ich glaube, es soll geheim sein. Vater hatte viele Feinde, nicht nur unter den Toten. Belanglose Nekromanten, Zauberer der Freien Magie, Hexen…«
»Es scheint Sie nicht sehr zu stören, dass Sie nicht wissen, wo dieses Haus ist«, unterbrach der Oberst sie. Zum ersten Mal lag eine Spur Zweifel, ja, sogar väterliche Herablassung in seiner Stimme, als
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