Das alte Königreich 01 - Sabriel
bleichen Antlitz verschwunden. Es schneite wieder. Der Wind wehte heftiger und peitschte in ihr ungeschütztes Gesicht. Ihre Stiefel waren trotz des Hammelfetts, mit dem sie das Leder eingerieben hatte, durchweicht, ihre Füße, das Gesicht und die Hände eisig, und sie war erschöpft. Verantwortungsbewusst hatte sie jede Stunde ein bisschen gegessen; jetzt aber brachte sie die steif gefrorenen Lippen nicht mehr auseinander.
Eine Weile hatte sie sich beim unversehrten Charterstein gewärmt, der sich stolz hinter dem kleineren Meilenstein erhob, indem sie die Wärme durch einen Charterzauber beschworen hatte. Doch sie war zu müde geworden, den Zauber ohne die Hilfe des Steins aufrechtzuerhalten, und so schwand die Wärme während des mühsamen Weges leider nur allzu schnell. Die Warnung ihrer Beschützerin, ihres Muttergeistes, trieb sie immer schneller voran – wie auch das Gefühl, verfolgt zu werden.
Doch es war nur ein Gefühl, und in ihrer Müdigkeit und der Kälte fragte sich Sabriel, ob sie nicht unter Wahnvorstellungen litt. Unverdrossen kämpfte sie sich weiter voran.
Säume nicht und halte nicht an, was auch geschehen mag.
Der Pfad, der vom Charterstein wegführte, war besser als der, der zum Spaltkamm geführt hatte, aber noch steiler. Die Wegemacher hatten durch einen dichten, grauen Stein hauen müssen, der nicht verwitterte; sie hatten Hunderte breiter, niedriger Stufen geschlagen und mit komplizierten Mustern versehen. Ob sie etwas bedeuteten, wusste Sabriel nicht. Es waren keine Chartersymbole, auch keine Symbole irgendeiner Sprache, die sie kannte, und sie war zu müde, darüber nachzudenken. Sie konzentrierte sich, eine Stufe nach der anderen zu nehmen, und benutzte die Hände, um ihre Schenkel nach unten zu drücken. Sie hustete und keuchte mit gesenktem Kopf, um das Gesicht frei von herangewehtem Schnee zu halten.
Der Pfad wurde noch steiler. Sabriel erblickte eine Felswand, eine gewaltige, schwarze, senkrechte Masse, ein viel dunklerer Hintergrund für den wirbelnden Schnee als der bewölkte Himmel, den der Mond schwach beleuchtete. Doch die Wand schien nicht näher zu kommen, da der Pfad im Zickzack verlief, höher und höher aus dem Tal aufsteigend.
Und dann, ganz plötzlich, war sie da. Wieder bog der Pfad scharf ab, und ihr irrlichterndes kleines Zauberlicht spiegelte sich auf einer Felswand, die sich meilenweit nach links und rechts und Hunderte von Schritten nach oben erstreckte. Zweifellos war dies die Langwand, und der Pfad endete hier.
Schluchzend vor Erleichterung stieß Sabriel sich vorwärts zum Fuß des Felsens. Das kleine Licht erhob sich über ihren Kopf und beleuchtete graues, mit Flechten überzogenes Gestein. Trotz des Lichts sah sie keine Spur von einer Tür – nichts als schroffen, unzugänglichen Fels, so weit das Auge reichte. Hier war kein Pfad mehr – nichts, wohin man gehen konnte.
Müde kniete Sabriel sich in den Schnee und rieb sich kräftig die Hände, um die Blutzirkulation wieder anzuregen, ehe sie Mosrael aus dem Bandelier zog. Mosrael, die Weckerin. Vorsichtig hob Sabriel die Glocke und spannte alle Sinne an, um irgendetwas Totes zu spüren, das sich in der Nähe befinden mochte und nicht geweckt werden sollte. Nichts dergleichen schien sich hier aufzuhalten, doch wieder spürte Sabriel irgendetwas hinter sich, das ihr folgte, sich aber noch weit unten auf dem Pfad befand. Es war etwas Totes – etwas, von dem Macht ausging. Sie versuchte abzuschätzen, wie weit es noch entfernt war, ehe sie es aus ihren Gedanken verdrängte. Was immer es sein mochte, es war nicht nahe genug, Mosraels durchdringende Stimme zu hören. Sabriel erhob sich und läutete die Glocke.
Mosrael, die Weckerin, gab einen Ton von sich wie Dutzende kreischender Papageien. Es war ein Lärm, der in die Luft explodierte, der sich in den Wind drängte, der von den Felsen widerhallte und sich zum gellenden Geschrei Tausender Vögel vereinte.
Sofort brachte Sabriel die Glocke zum Verstummen und steckte sie weg, doch die Echos rasten übers Tal hinweg, und sie wusste, dass das Ding hinter ihr die Glocke gehört hatte.
Sie spürte, dass es seine Aufmerksamkeit nun auf die Stelle richtete, an der sie sich befand, und seinen Schritt beschleunigte. Ihr war, als beobachtete sie die Muskeln eines Rennpferdes, dessen Schritte zum Galopp anschwollen. Das Ding kam herauf, schnell, schnell, nahm mindestens vier bis fünf Stufen auf einmal. Sabriel spürte seine Schnelligkeit in ihrem Kopf, und ihre
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