Das alte Königreich 01 - Sabriel
Angst wuchs in gleichem Maße. Trotzdem trat sie an den Rand des Pfades und blickte hinunter, während sie gleichzeitig ihr Schwert zog.
Durch dichtes Schneetreiben sah sie eine Gestalt über die Stufen springen und mit beängstigender Geschwindigkeit näher kommen. Die Gestalt war menschenähnlich, etwas größer als mannshoch; dort, wo sie den Boden berührte, stiegen Flammen auf wie von brennendem Öl auf Wasser. Sabriel schrie beim Anblick der Kreatur und spürte den Toten Geist in diesem unheimlichen Geschöpf. Das Buch der Toten öffnete sich in ihrer Erinnerung auf erschreckenden Seiten, und Beschreibungen von Bösem ergossen sich in ihren Kopf. Es war ein Mordicant, der sie jagte, ein Wesen, das nach Belieben vom Tod ins Leben und vom Leben in den Tod zu dringen vermochte. Ein Nekromant hatte ihn aus Sumpferde und Menschenblut geformt, seinem Körper Freie Magie eingeflößt und ihm als leitende Kraft einen Toten Geist eingegeben.
Einmal hatte Sabriel einen Mordicanten gebannt, doch das war vierzig Meilen von der Mauer entfernt in Ancelstierre gewesen, und es war ein schwaches, bereits schwindendes Ding gewesen. Dieses hier aber war stark, hitzig, neugeboren. Er würde sie töten, das wusste sie plötzlich, und ihren Geist unterjochen. Ihre Pläne und Träume, ihre Hoffnungen und ihr Mut verließen sie und wichen blinder Panik. Sabriel drehte sich zuerst nach rechts, dann nach links, wie ein Hase, der vor einem Hund Haken schlägt. Doch der einzige Weg nach unten war der Pfad, und der Mordicant befand sich nur hundert Schritt unterhalb und kam mit jedem Herzschlag, mit jeder fallenden Schneeflocke näher. Flammen sprühten aus seinem Rachen, und er warf seinen spitzen Kopf zurück und heulte, während er rannte. Das Heulen klang wie der verzweifelte Schrei eines in den Tod stürzenden Menschen, und er wurde von einem Scharren wie von Fingernägeln auf Glas begleitet.
Sabriel dagegen war der Schrei in der Kehle stecken geblieben und würgte sie nun, während sie sich zur Felswand umdrehte und mit dem Schwertknauf dagegen hämmerte.
»Aufmachen! Aufmachen!«, rief sie schrill. Charterzeichen jagten durch ihr Hirn, doch es waren nicht die richtigen, um eine Tür aufzubrechen. Dabei hatte sie diesen Zauber bereits in der zweiten Klasse gelernt! Aber die Charterzeichen wollten einfach nicht kommen. Warum ging ihr hartnäckig zwölf mal zwölf durch den Kopf, wenn sie doch Charterzeichen wollte…
Mosraels Widerhall endete und in der unversehens eingetretenen Stille schlug der Schwertknauf gegen etwas Hohlklingendes. Da war etwas Hölzernes, kein Stein, der Funken sprühen ließ. Es war etwas, das zuvor nicht hier gewesen war. Eine Tür, hoch und eigenartig schmal; das dunkle Eichenholz war mit silbrigen Charterzeichen durchzogen, die durch die Maserung tanzten. Ein Eisenring, genau in Handhöhe, berührte Sabriels Hüfte.
Keuchend ließ sie ihr Schwert fallen, griff nach dem Ring und zog. Nichts geschah. Wieder zog sie, während sie sich rasch umdrehte und über die Schulter blickte. Sie wand sich in ihrer Furcht vor dem, was sie sehen würde.
Der Mordicant bog um die letzte Ecke. Sein Blick begegnete dem ihren. Sabriel kniff die Lider zusammen; sie ertrug den Hass und den Blutdurst nicht, die im Blick der Kreatur glühten wie ein Schürhaken, den man im Kaminfeuer vergessen hatte. Das scheußliche Wesen heulte wieder und setzte zum Sprung über die letzten Stufen an. Flammen troffen aus seinem Maul, von seinen Klauen, seinen Füßen.
Mit noch immer geschlossenen Augen drückte Sabriel auf den Ring. Die Tür schwang auf, und ohne auf die Schmerzen in ihren Händen und Knien zu achten, stürzte sie, begleitet von Schneegestöber, ins Innere. Erst jetzt riss sie die Augen auf. Verzweifelt wandte sie sich um, langte hinaus und zog ihr Schwert am Griff herein.
Plötzlich stand der Mordicant vor der Tür. Er drehte sich seitwärts, um durch die enge Öffnung zu kommen, und stieß einen Arm hinein. Flammen kochten aus seinem graugrünen Fleisch wie Schweißperlen, und schwarze Rauchfähnchen stiegen von den Flammen auf, begleitet von einem Gestank wie brennendes Haar.
Sabriel lag hilflos auf dem Boden und starrte entsetzt, als die vierfingrige Klauenhand der Kreatur sich langsam öffnete und nach ihr griff.
7
Doch die Klauenhand schloss sich nicht um sie, und die scharfen Krallen zerfetzten nicht ihr weiches Fleisch.
Stattdessen spürte Sabriel plötzlich das Wogen von Schutzzauber, und rund um die
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