Das alte Königreich 01 - Sabriel
überzogen, und Thralks verschrumpelte Augen konnten die Charterzeichen nicht wahrnehmen, die darunter tanzten. Auch die Glocke in Sabriels linker Hand erschien ihm als ein Klumpen Eis oder Matsch, als hätte das Mädchen einen Schneeball gefangen. Alles in allem glaubte Thralk Glück zu haben – vor allem, da das Leben, das in diesem erstarrten Opfer brannte, besonders jung und kräftig war.
Er näherte sich vorsichtig und streckte erwartungsvoll die Arme aus, um sie um Sabriels Hals zu schlingen.
Im gleichen Moment, als seine schleimigen, verrottenden Finger sich bewegten, schlug Sabriel die Augen auf. Sie spürte, wie sie und das Schwert eins wurden, und wagte jenen Überraschungsangriff, der ihr den zweiten Platz im Fechtunterricht gebracht hatte. Die Schwertspitze drang durch Thralks Hals und acht Zoll Luft dahinter.
Thralk schrie und seine Finger umklammerten das Schwert, um sich davon zu befreien – nur um erneut gellend zu schreien, als die Charterzeichen auf der Klinge loderten. Weiß glühende Funken stiegen aus seinen Fingerknöcheln. Plötzlich wurde ihm klar, mit wem er sich hier angelegt hatte.
»Abhorsen!«, krächzte er und stürzte zurück, als Sabriel die Klinge mit einem kräftigen Ruck freizog.
Jetzt schon zeigte das Schwert seine Wirkung auf das tote Fleisch Thralks. Chartermagie brannte durch neu belebte Nerven und ließ die modrig-feuchten Gelenke erfrieren. In Thralks Kehle stieg Feuer auf. Trotzdem sprach er, um diesen schrecklichen Gegner abzulenken, während sein Geist den Körper abzustreifen versuchte wie eine Schlange ihre Haut, damit er in die Nacht flüchten konnte.
»Abhorsen! Ich werde dir dienen, dich lobpreisen, deine Hand sein… Ich kenne lebende und tote Dinge… Ich werde dir helfen andere anzulocken…«
Der klare, tiefe Klang von Saraneth übertönte die wimmernde, gebrochene Stimme wie ein Nebelhorn, das über dem Kreischen von Möwen erschallte. Der Klang vibrierte weiter, hallte in die Nacht. Thralk spürte, wie der Klang der Glocke ihn fesselte, während sein Geist aus dem Körper sickerte und fliehen wollte. Die Glocke band ihn an gelähmtes Fleisch, an den Willen des Glockenläuters. Wut schäumte in ihm, Ärger und Furcht spornten seinen Widerstand an, doch der Klang um und in ihm war allgegenwärtig. Er würde sich nie mehr davon befreien können.
Sabriel beobachtete, wie die schattenhafte Kreatur sich mühte, die Leiche zu verlassen. Das Ding versuchte immer noch, den Mund des Toten zu benutzen, doch ohne Erfolg. Sabriel überlegte, ob sie mit ihm in den Tod gehen sollte, wo es einen Körper haben würde und wo sie es mit der Glocke Dyrim zu Antworten zwingen konnte. Doch der zerschmetterte Charterstein erhob sich in der Nähe; sie spürte ihn wie eine allgegenwärtige Angst, wie ein kaltes Juwel auf der Brust. In ihrem Kopf hörte sie die Worte des Sendgeistes ihrer Mutter: »Säume nicht und halte nicht an, was auch geschehen mag.«
Sabriel stieß ihre Schwertspitze in den Schnee, steckte Saraneth zurück in ihre Hülle und zog mit beiden Händen Kibeth heraus. Thralk spürte es, und seine Wut wich grenzenloser Angst. Er erkannte, dass nach den Jahrhunderten des Überlebenskampfes hier und jetzt der wahre Tod seiner harrte.
Sabriel nahm die geeignete Stellung ein und hielt die Glocke zweihändig. Kibeth schien zwischen ihren Fingern zu zucken, doch Sabriel bändigte sie, schwang sie rückwärts und vorwärts und in zwei ineinander greifenden Kreisen in Form einer Acht. Die vielfältigen Klänge dieser einen Glocke unterschieden sich sehr voneinander und hörten sich an wie ein Marsch, eine Tanzweise, ein Appell.
Thralk vernahm die Laute und spürte, wie seltsame, unerbittliche Mächte nach ihm griffen, ihn zur Grenze zwangen – und hinüber in den Tod. Hilflos, fast mitleiderregend wehrte er sich; er wusste, dass er sich nicht befreien konnte, dass er durch jedes Tor schreiten würde, um schließlich durchs Neunte Tor zu fallen. Er gab den Widerstand auf und nutzte seine letzte Kraft, um inmitten seiner Schattenform eine Art Mund zu schaffen, einen Mund mit einer sich windenden dunklen Zunge.
»Sei verflucht!«, stieß er gurgelnd hervor. »Ich werde es den Dienern Kerrigors sagen! Man wird mich rächen…«
Thralks groteske glucksende Stimme verlor sich mitten im Satz, als er seinen freien Willen verlor. Saraneth hatte ihn gebunden, und nun packte Kibeth ihn und zwang ihn dorthin, wo es Thralk nicht mehr geben würde. Der sich windende Schatten
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