Das alte Königreich 01 - Sabriel
verschwand; es blieb nur Schnee unter einer seit langem verrottenden Leiche.
Zwar war die schreckliche Kreatur jetzt fort, doch ihre letzten Worte beunruhigten Sabriel. Der Name Kerrigor war ihr nicht wirklich vertraut, und doch weckte er eine unbestimmte Furcht in ihr, eine Erinnerung. Möglicherweise hatte Abhorsen diesen Namen erwähnt; zweifellos war es der eines der Größeren Toten. Der Name machte Sabriel auf die gleiche Art Angst wie der zerstörte Stein, als würde er auf Symbole einer Welt hinweisen, in der etwas schief gegangen war, einer Welt, in der ihr Vater verloren war und sie selbst auf schreckliche Weise bedroht wurde.
Sabriel hustete, denn die Kälte reizte ihre Lunge. Vorsichtig verstaute sie Kibeth in ihrem Bandelier. Ihr Schwert schien sich durch das Feuer selbst gereinigt zu haben; trotzdem wischte sie mit einem Tuch über die Klinge und schob sie erst dann zurück in die Scheide. Sie fühlte sich sehr müde, als sie in die Gurte ihres Rucksacks schlüpfte, doch sie wusste, dass sie auf der Stelle weitermusste. Die Worte des Geistes ihrer Mutter hallten immer wieder in ihr nach, und ihre eigenen Sinne warnten sie, dass sich im Tode etwas tat, dass sich etwas Mächtiges auf das Leben zubewegte und beim zerstörten Stein erscheinen wollte…
Dieser Hügel hatte schon zu viel Tod, zu viel Chartermagie erlebt, und diese Nacht hatte ihre tiefste Schwärze noch nicht erreicht.
Der Wind schlug um und die Wolken gewannen erneut die Herrschaft über den Himmel. Bald würden die Sterne verschwinden und der zunehmende Mond sich hinter einem weißen Schleier verbergen.
Rasch suchte Sabriel das Firmament nach den drei hellen Sternen ab, welche die Gürtelspange des Nordriesen darstellten. Sie fand die Himmelslichter; dann aber musste sie sich auf der Sternkarte in ihrem Almanach vergewissern. Ein handgefertigtes, übel riechendes Streichholz warf einen flackernden gelben Schein auf die Seiten. Sabriel wagte es nicht, sich weiterer Chartermagie zu bedienen, bis sie den zerstörten Charterstein hinter sich gelassen hatte. Der Almanach bestätigte, dass ihre Erinnerung sie nicht trog: Die Gürtelspange befand sich genau nördlich des Alten Königreichs; der andere Name dieses Sternbildes lautete »Seemanns Irrfahrt«. In Ancelstierre befand die Spange sich gut zehn Grad nordwestlich.
Nachdem sie nun die genaue Richtung wusste, ging Sabriel zur Nordseite des Sattels und suchte den Pfad, der schräg zu der ins Dunkel getauchten Talsohle führte. Die Wolken verdichteten sich. Sie wollte ebenen Boden erreichen, bevor der Mond verschwand. Zumindest schien der Pfad, als sie ihn entdeckt hatte, leichter begehbar als die zerbröckelnden Steinstufen am Südhang. Allerdings war der Weg über den viel sanfteren Hang bedeutend länger.
Tatsächlich brauchte Sabriel mehrere Stunden, ehe sie stolpernd und fröstelnd die Talsohle erreichte. Eine bleiche Charterflamme tänzelte ein Stückchen vor ihr her. Sie war zu schwach gewesen, als dass sie weit gereicht hätte, doch sie hatte Sabriel zumindest geholfen, größeren Hindernissen auszuweichen. Sabriel hoffte, dass die Flamme blass genug war, um für Sumpfgas oder eine zufällige Widerspiegelung gehalten zu werden. Jedenfalls war sie sehr hilfreich gewesen, nachdem die Wolkendecke sich völlig geschlossen hatte.
Sabriel spähte in die Richtung, die sie für Norden hielt, und hoffte trotz der Wolken den roten Stern Uallus zu entdecken. Ihre Zähne klapperten und ein Schauder, der an ihren eisigen Füßen begonnen hatte, durchlief nach und nach ihren ganzen Körper. Wenn sie nicht schneller vorwärts kam, würde sie auf der Stelle erfrieren – vor allem, da der eisige Wind wieder aufkam.
Sabriel lachte leise, fast hysterisch, und drehte das Gesicht in den Wind, der aus dem Osten wehte und mit jeder Minute kälter und schneidender wurde. Als der Wind zum Sturm anschwoll, sprengte er die Wolkendecke und trieb sie westwärts. In dem so entstandenen Spalt blickte Uallus rot schimmernd zur Erde herab. Sabriel lächelte und orientierte sich mit seiner Hilfe; dann machte sie sich wieder auf den Weg. Sie folgte dem Stern, wobei sie ständig die Stimme in ihrem Kopf vernahm.
Säume nicht und halte nicht an, was auch geschehen mag.
Sie lächelte immer noch, als sie die Straße entdeckte, und da sich in beiden Gräben Schnee angesammelt hatte, kam sie mit den Skiern gut voran.
Doch bis Sabriel den Meilenstein und den Charterstein dahinter fand, war das Lächeln von ihrem
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