Das alte Königreich 01 - Sabriel
Tür flammten Chartersymbole auf. Sie brannten so hell, dass sie wie rote und schwarze Punkte vor Sabriels Iris hüpften, auch nachdem sie die Augen geschlossen hatte. Sie blinzelte, als sie einen Mann aus den Steinen der Wand treten sah – einen großen und offensichtlich starken Mann. Er schwang ein Schwert, ähnlich dem ihren, und hieb auf den Arm des Mordicanten ein, worauf ein Stück des brennenden Sumpflehmfleisches zu Boden fiel. Beim Hochziehen trennte die Klinge ein weiteres Stück ab, wie die Axt eines Holzfällers, der einen Keil in den Baum hackt.
Der Mordicant heulte mehr aus Wut denn aus Schmerz, doch er zog den Arm zurück. Der Fremde warf sich gegen die Tür und schloss sie mit dem Gewicht seines durch ein Kettenhemd geschützten Körpers. Erstaunlich war, dass keinerlei Geräusch von den Hunderten von Kettengliedern ausging. Überdies steckte ein seltsamer Körper darin, wie Sabriel bemerkte, als die schwarzen und roten Punkte vor ihren Augen verblassten. Ihr Retter war gar nicht menschlich. Sein Körper hatte zwar fest und stofflich ausgesehen; nun aber erkannte Sabriel, dass jeder Quadratzoll aus winzigen Chartersymbolen bestand, die sich immer während bewegten, und dass sich zwischen und unter ihnen lediglich leere Luft befand.
Er war ein Chartergeist, ein Sendling.
Draußen heulte der Mordicant schlimmer als ein Sturmwind. Dann erbebte der ganze Korridor; Angeln kreischten, als er sich gegen die Tür warf. Holz splitterte und Wolken dichten grauen Staubes fielen von der Decke, wie Schnee vom Himmel rieselt.
Der Sendling wandte sich Sabriel zu und bot ihr seine Hand zum Aufstehen. Sabriel ergriff sie und blickte ihn an, während ihre müden und eisigen Beine sich plagten, zum Gong der zehnten Runde hochzukommen. Aus der Nähe war die Illusion eines lebenden Körpers wegen des ständigen Fließens und Wogens der Chartersymbole nicht mehr aufrechtzuerhalten; es war ein ziemlich bestürzender Anblick. Das Gesicht des Sendlings wechselte unentwegt Gestalt und Ausdruck. Einmal war es das einer Frau, gleich darauf das eines Mannes, doch die Wirkung dieses Gesichts war stets entschlossen und energisch. Sein Körper und die Kleidung veränderten sich gleichermaßen, nur zwei Dinge blieben: ein schwarzer, ärmelloser Überwurf mit Silberschlüsselwappen und ein langes Schwert mit bewegten Chartersymbolen.
»Danke«, murmelte Sabriel ein wenig verängstigt und zuckte zusammen, als der Mordicant wieder an die Tür hämmerte. »Glaubst du… glaubst du, er kann hereinkommen?«
Der Sendling nickte grimmig und ließ ihre Hand los, um den langen Korridor hinaufzudeuten, sagte jedoch nichts. Sabriel wandte sich um und folgte der Richtung seines ausgestreckten Armes. Sie sah einen dunklen Gang, der in noch tiefere Dunkelheit führte. Chartersymbole leuchteten auf und erloschen wieder, trotzdem empfand sie die Finsternis als freundlich und beinahe konnte sie in der staubigen Luft des Korridors die Schutzzauber spüren.
»Ich muss weitergehen?«, fragte Sabriel, als ihr Schutzgeist die Hände vor und zurück schwang und mit dieser Geste unmissverständlich zur Eile mahnte. Ein weiterer schmetternder Schlag hinter ihm wirbelte eine neue Staubwolke auf; es hörte sich an, als würde die Tür bald nachgeben. Wieder wehte ein Hauch des grässlichen, angesengten Gestanks des Mordicanten durch den Korridor.
Der Türhüter rümpfte die Nase und versetzte Sabriel einen kleinen Schubs in die von ihm gewünschte Richtung – wie ein Vater, der seinem widerstrebenden Kind nachhilft. Doch Sabriel brauchte kein Drängen, dazu brannte die Angst in ihr noch viel zu stark. Zwar hatte die Rettung in größter Not sie die Furcht zumindest vorübergehend vergessen lassen, doch der Gestank des Mordicanten brachte den Schrecken sofort zurück. Sie schob das Kinn vor und ging rasch in den Korridor hinein.
Nach ein paar Schritten blickte sie zurück. Sie sah, dass der Schutzgeist mit seinem Schwert kampfbereit neben der Tür stand. Im selben Augenblick barst das mit Eisen verstärkte Holz.
Der Mordicant langte durch die entstandene Öffnung und zerbrach mehrere Bretter, als wären es Zahnstocher. Er war offensichtlich wütend, weil ihm sein Opfer entging; jedenfalls brannte er nun am ganzen Körper. Gelbrote Flammen strömten in stinkender Flut aus seinem Schlund. Schwarzer Rauch hüllte ihn ein und wirbelte um ihn herum, während er zornig kreischte.
Sabriel wandte den Blick ab und ging rasch weiter. Immer schneller wurden
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