Das alte Königreich 01 - Sabriel
Wellenbrecher bis zur Kluft. Ihr Ölzeug hatte sie lose über die Schultern drapiert; der Regen lief daran herunter und tropfte auf den Boden. Durch die Dunkelheit vermochte sie nichts zu sehen, doch sie spürte die Toten. Es waren mehr, als sie zuvor gefühlt hatte, oder sie waren inzwischen stärker geworden. Stärker… zu ihrer Bestürzung wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass diese Stärke von einer einzigen Kreatur ausging, die eben erst aus dem Tod gekommen war und den zerstörten Charterstein als Pforte benutzt hatte. Einen Augenblick später wusste sie, wer es war.
Der Mordicant hatte sie gefunden.
»Touchstone.« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Kannst du auch in der Nacht mit einem Boot umgehen?«
»Ja«, antwortete er. Seine Stimme klang wieder unpersönlich. Sein Gesicht war dunkel in der Regennacht, und die Laternen der Dorfbewohner hinter ihm beleuchteten nur seinen Rücken und die Füße. Er zögerte, als stünde es ihm nicht zu, seine Meinung zu äußern, doch schließlich fügte er hinzu: »Aber es wäre viel gefährlicher. Ich kenne diese Küste nicht und die Nacht ist sehr dunkel.«
»Mogget kann im Dunkeln sehen«, sagte Sabriel leise und trat näher zu Touchstone, damit die Fischer sie nicht hören konnten.
»Wir müssen sofort aufbrechen«, wisperte sie, wobei sie tat, als zupfe sie ihr Ölzeug zurecht. »Ein Mordicant ist gekommen. Derselbe, der mich zuvor schon verfolgt hat.«
»Was ist mit den Leuten hier?«, fragte Touchstone so leise, dass der Regen seine Worte beinahe wegwusch – trotzdem war der Tadel in seiner Stimme nicht zu überhören.
»Der Mordicant ist hinter mir her«, murmelte Sabriel. Sie spürte, wie der Mordicant sich vom Stein fortbewegte und versuchte, sie mit seinem außerordentlichen Wahrnehmungsvermögen aufzuspüren. »Er kann meine Anwesenheit fühlen, so wie ich seine. Sobald ich von hier weggehe, wird er folgen.«
»Wenn wir bis zum Morgen bleiben«, gab Touchstone flüsternd zurück, »werden wir hier sicher sein. Ihr habt gesagt, dass nicht einmal ein Mordicant diese Kluft zu überwinden vermag.«
»Ich sagte, dass ich es annehme«, entgegnete Sabriel. »Er ist stärker geworden. Ich kann nicht sicher sein…«
»Es war nicht allzu schwer, das Ding im Schuppen zu vernichten, diesen Mordauten«, flüsterte Touchstone in seiner Unwissenheit. »Ist dieser Mordicant denn so viel gefährlicher?«
»Allerdings«, antwortete Sabriel knapp.
Der Mordicant bewegte sich nicht mehr. Der Regen schien sowohl seine Sinne wie auch sein Verlangen gedämpft zu haben, Sabriel zu finden und zu töten. Sie starrte vergebens in die Dunkelheit und versuchte durch den dichten Regen zu blicken, um mit den Augen bestätigt zu sehen, was ihre nekromantischen Sinne ihr verrieten.
»Riemer!«, rief sie jetzt laut und meinte damit den Fischer, der für ihre Laternenträger verantwortlich war. Er kam rasch zu ihr. Sein rotes Haar klebte an seinem runden Schädel, und Regenwasser troff von seiner hohen Stirn und spritzte von seiner Knollennase.
»Riemer, sorg dafür, dass die Bogenschützen äußerst wachsam sind. Sag ihnen, sie sollen auf alles schießen, was auf den Wellenbrecher zu klettern versucht. Es gibt da draußen jetzt nichts Lebendes mehr, nur noch die Toten. Wir müssen umkehren und mit eurem Ältesten reden.«
Schweigend gingen sie zurück. Nur das Platschen der Stiefel und das unaufhörliche Trommeln des Regens waren zu hören. Sabriel konzentrierte sich weiterhin auf den Mordicanten, dessen beängstigende Gegenwart sie immer noch übers dunkle Wasser spürte. Sie fragte sich, worauf er wartete. Vielleicht, dass endlich der Regen aufhörte und er seinen Kreaturen den Befehl zum Angriff geben konnte. Doch was auch immer seine Gründe sein mochten – Sabriel und die anderen hatten dadurch ein wenig Zeit, sich ein Boot zu beschaffen und aufzubrechen. Und vielleicht konnte er die Kluft im Wellenbrecher ja tatsächlich nicht überqueren.
»Um wie viel Uhr ist Ebbe?«, fragte sie Riemer, als ihr ein neuer Gedanke kam.
»Ungefähr eine Stunde vor Morgengrauen«, antwortete der Fischer. »In sechs Stunden, wenn ich mich nicht irre.«
Der Älteste erwachte missmutig aus seinem zweiten Schlaf. Es gefiel ihm nicht, dass sie in der Nacht fortwollten, allerdings spürte Sabriel, dass sein Missmut eher darauf zurückzuführen war, dass sie ein Boot brauchten. Die Fischer hatten nur noch fünf. Die anderen waren von den Toten, die unbedingt die
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