Das alte Königreich 01 - Sabriel
den Geistern, die mit der Karawane des Händlers kamen. Ist es immer noch so, Lady? Wird Abhorsen uns vor den Toten retten?«
Sabriel überlegte einen Moment. In Gedanken blätterte sie durch das Buch der Toten und spürte, wie es sich im Rucksack vor ihren Füßen bewegte. Dann dachte sie an ihren Vater, an die bevorstehende Reise nach Belisaere und daran, wie Tote offenbar durch einen überlegenen Geist auf sie gehetzt wurden.
»Ich werde dafür sorgen, dass diese Insel frei von den Toten wird«, antwortete sie schließlich so laut, dass alle sie hören konnten. »Aber ich kann das Dorf auf dem Festland nicht von ihnen befreien. Im Königreich ist ein Größeres Böses am Werk – jenes Böse, das euren Charterstein gebrochen hat. Das muss ich finden und besiegen, sobald ich kann. Wenn ich das geschafft habe, werde ich zurückkehren – ich hoffe, mit der Hilfe anderer. Dann werden sowohl das Dorf wie der Charterstein wiederhergestellt.«
»Wir verstehen«, erwiderte der Älteste. Er nahm die Nachricht ein wenig enttäuscht, aber schicksalsergeben auf und fuhr fort, doch sprach er mehr zu seinen Leuten als zu Sabriel. »Wir können hier überleben. Wir haben eine Quelle und Fisch. Wir haben Boote. Wenn Callibe nicht den Toten zum Opfer gefallen ist, können wir Fische gegen Gemüse und anderes eintauschen.«
»Ihr werdet den Wellenbrecher weiterhin bewachen müssen«, mahnte Touchstone. Er stand hinter Sabriels Stuhl, ein wahrer Leibwächter, aber auch Berater. »Die Toten – oder ihre lebenden Sklaven – könnten versuchen, die Kluft mit Steinen zu füllen. Sie sind auch fähig, fließendes Wasser zu überqueren, indem sie über Kisten klettern, die mit Graberde gefüllt sind.«
»Also werden wir belagert«, stellte ein Mann in der vordersten Reihe der Dorfbewohner fest. »Aber was ist mit diesem Toten Ding hier auf der Insel, für das wir offenbar leichte Beute sind? Wie hofft ihr es zu finden?«
Nach diesen Worten setzte Schweigen ein, denn alle wollten die Antwort hören. Regen plätscherte aufs Dach, sonst war kein Geräusch zu vernehmen. Schon am Spätnachmittag hatte es zu nieseln begonnen. Die Toten mögen den Regen nicht, dachte Sabriel, während sie sich die Antwort überlegte. Regen zerstörte die Toten nicht, doch er schmerzte und reizte sie. Wo immer das Tote Ding auf der Insel sein mochte – es würde sich vor dem Regen schützen.
Dieser Gedanke ermutigte Sabriel. Einunddreißig Augenpaare beobachteten sie. Trotz des beißenden Rauchs von zu vielen Laternen, Kerzen und Fackeln blinzelte kaum jemand. Touchstone beobachtete die Dorfbewohner; Mogget betrachtete ein Stück Fisch; Sabriel schloss die Augen und suchte mit anderen Sinnen. Sie bemühte sich, die Anwesenheit des Toten zu fühlen.
Er war da – ein widerlicher Hauch von Verrottetem ging von ihm aus, schwach und verborgen. Sabriel konzentrierte sich darauf, folgte ihm und fand ihn hier in diesem Schuppen. Der Tote versteckte sich unter den Dorfbewohnern – irgendwie.
Sie öffnete langsam die Augen und blickte genau auf die Stelle, zu der ihre inneren Sinne sie geleitet hatten. Sie sah einen Fischer mittleren Alters, dessen von Wind und Salzwasser gezeichnetes Gesicht rot unter dem sonnengebleichten blonden Haar glänzte. Er schien nicht anders zu sein als die anderen in diesem Raum und wartete angespannt auf Sabriels Antwort, doch da war ohne Zweifel etwas Totes in ihm oder ganz in seiner Nähe. Er trug einen dicken Umhang, was merkwürdig schien, da es in dem Schuppen durch die vielen Menschen und Lichter sehr heiß war.
»Beantwortet mir eine Frage«, sagte Sabriel. »Hat jemand eine große Kiste zur Insel mitgebracht, von einer Armspanne pro Seite oder größer? Sie würde sehr schwer sein, wäre sie mit Graberde gefüllt.«
Ein Murmeln erhob sich, und ein Nachbar wandte sich dem anderen zu, als Furcht und Misstrauen erwachten. Während die Leute redeten, schritt Sabriel zwischen ihnen hindurch. Sie lockerte unmerklich ihr Schwert und bedeutete Touchstone, sich dicht an sie zu halten. Er folgte ihr, und sein Blick schweifte über die kleinen Gruppen von Dorfbewohnern. Mogget schaute von seinem Fisch auf, streckte sich und stapfte dicht hinter Touchstone her, nachdem er zwei hungrigen Katzen einen warnenden Blick zugeworfen hatte, als diese sich seinem halb aufgefressenen Fisch nähern wollten.
Vorsichtig, um ihr Opfer nicht zu warnen, ging Sabriel im Zickzack durch den Schuppen und lauschte scheinbar aufmerksam, was die
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