Das alte Königreich 01 - Sabriel
königlichen Blut. Die zweite im Blut Abhorsens. Was waren drei und fünf? Und wer war vier, der alles in gefrorenem Wasser sah? Sabriel war überzeugt, dass viele Antworten in Belisaere gefunden werden konnten. Wahrscheinlich vermochte ihr Vater noch weitere Fragen zu beantworten, denn viele Dinge, die im Leben gebunden waren, konnten im Tod gelöst werden. Dann war da auch noch ihr Mutter-Sendling, dem sie die dritte und letzte Frage in diesen sieben Jahren stellen konnte.
Touchstone schob den Kahn ins Wasser; dann stieg er an Bord und griff nach den Rudern. Mogget sprang von Sabriels Armen hinunter und kauerte sich nahe dem Bug wie eine Galionsfigur hin, um das Boot sicher durch die dunklen Gewässer zu leiten – und zugleich Touchstone zu verspotten.
An der Küste begann der Mordicant zu schreien – ein lang anhaltendes, durchdringendes Heulen, das weit übers Wasser hallte und den Menschen auf dem Boot wie auf der Insel das Blut in den Adern gerinnen ließ.
»Ein bisschen mehr nach Steuerbord«, sagte Mogget in der Stille nach dem Geheul. »Wir müssen weiter vom Ufer weg.«
Touchstone beeilte sich der Anweisung zu folgen.
18
Am Morgen des sechsten Tages nach ihrem Aufbruch von Nestowe hatte Sabriel von der Seefahrt mehr als genug. Sie waren fast die ganze Zeit gesegelt und hatten stets nur mittags irgendwo an der Küste angelegt, um sich frisches Wasser zu besorgen – zur Sicherheit stets bei hellem Sonnenschein. Des Nachts hatten sie sich einfach treiben lassen oder im tiefen Wasser Anker geworfen, wenn Touchstone zu erschöpft war, sich um die Segel zu kümmern. Mogget, der niemals schlief, hielt Wache. Glücklicherweise hatte das Wetter es gut mit ihnen gemeint.
In den fünf Tagen war es zu keinen unliebsamen Zwischenfällen gekommen. Zwei Tage hatten sie von Nestowe nach Bartenspitze gebraucht, einer unscheinbaren Halbinsel, deren einzige Sehenswürdigkeiten ein Sandstrand und ein klarer Bach waren. Da niemand in dieser Gegend wohnte, gab es hier auch keine Toten. Dort konnte Sabriel zum ersten Mal nicht mehr die Anwesenheit des Mordicanten spüren, der sie verfolgte. Ein kräftiger Südostwind hatte sie offenbar zu schnell übers Meer getrieben, als dass der Mordicant ihnen hätte folgen können.
Von Bartenspitze aus waren sie drei Tage zur Insel Ilgard unterwegs gewesen, deren steile Klippen Tausende von Seevögeln beherbergten; sie passierten die Insel am Spätnachmittag mit zum Bersten prallem Segel. Das Klinkerboot krängte stark, und sein Bug durchschnitt die Gischt mit solcher Heftigkeit, dass das Salz die Gefährten verkrustete.
Von Ilgard zum Belis-Schlund – jener Meerenge, die zur See von Saere führte – war es ein halber Tag, doch da es eine tückische Strecke war, ankerten sie zu Beginn der Nacht außer Sichtweite von Ilgard, um das Tageslicht abzuwarten.
»Über den Belis-Schlund ist eine Sperrkette gespannt«, erklärte Touchstone, als er das Segel setzte und Sabriel den Anker über den Bug hievte. Bald würde die Sonne hinter ihnen aufgehen, doch sie hatte sich noch nicht aus dem Meer erhoben und war zu dieser frühen Morgenstunde nicht mehr als ein Schatten auf dem Wasser. »Diese Sperrkette wurde angebracht, um Piraten den Zugang zur See von Saere zu verwehren. Die Kette ist gewaltig! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie geschmiedet und über die Meerenge gespannt wurde.«
»Ob sie noch dort ist?«, fragte Sabriel behutsam, denn sie wollte Touchstone nicht aus seiner ungewohnten Gesprächigkeit reißen.
»Ich bin mir ziemlich sicher«, antwortete er. »Wir werden als Erstes die Türme an der gegenüberliegenden Küste sehen. Wendelsteven im Süden und Spierenspitze im Norden.«
»Keine sehr einfallsreichen Bezeichnungen«, bemerkte Sabriel, die ihn eigentlich gar nicht hatte unterbrechen wollen. Es war schön, sich wieder einmal mit jemandem unterhalten zu können. Touchstone hatte während der gesamten Seefahrt kaum ein Wort von sich gegeben, was Sabriel ihm aber nicht verübeln konnte. Schließlich hatte er das Fischerboot täglich achtzehn Stunden segeln müssen, was selbst bei gutem Wetter kaum Zeit für Gespräche ließ.
»Sie sind nach ihrem Zweck benannt«, erwiderte Touchstone. »Was Sinn ergibt.«
»Wer entscheidet, ob Schiffe durch die Absperrung dürfen oder nicht?«, wollte Sabriel wissen. Schon jetzt dachte sie weiter und fragte sich, wie es wohl in Belisaere aussah. Könnte es dort wie in Nestowe sein? Eine verlassene Stadt, von Toten
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