Das alte Königreich 01 - Sabriel
Flucht ihrer lebenden Beute hatten verhindern wollen, durch Steinbrocken im Hafen versenkt worden.
»Es tut mir Leid«, sagte Sabriel, »wir brauchen ein Boot, und zwar sofort. Im Dorf hält sich ein schrecklicher Toter auf, der Fährten liest wie ein Bluthund, und er folgt mir. Wenn ich bleibe, wird er versuchen hierher zu gelangen – und während der Ebbe kann er vielleicht die Kluft im Wellenbrecher überwinden. Gehe ich fort von hier, wird er mir folgen.«
»Also gut«, brummte der Greis düster. »Ihr habt diese Insel für uns gereinigt. Verglichen damit ist es eine Kleinigkeit, ein Boot zu beschaffen.«
Er wandte sich an den ängstlich blickenden Fischer: »Du, Riemer, wirst es herrichten und für Essen und Wasser sorgen. Die Abhorsen wird Landalins Boot bekommen. Vergewissere dich, dass es seefest ist. Nimm das Segel von Jaled, wenn das von Landalin schon zu morsch ist. Und sorg für Proviant und Wasser.«
»Danke«, murmelte Sabriel. Müdigkeit drückte sie nieder; die ständige Notwendigkeit, wachsam zu sein, war erschöpfend. »Wir werden sofort aufbrechen. Meine guten Wünsche bleiben bei euch – und meine Hoffnung für eure Sicherheit.«
»Möge die Charter uns alle beschützen«, fügte Touchstone hinzu und verbeugte sich vor dem Greis. Der Älteste verneigte sich ebenfalls. Er war viel kleiner als sein Schatten an der Wand hinter ihm.
Sabriel wandte sich zum Gehen, doch vor der Tür hatte sich eine lange Schlange von Dorfbewohnern gebildet. Alle wollten sich vor ihr verbeugen oder einen Knicks machen und schüchtern Danke und Lebewohl sagen.
Sabriel war verlegen; das Schicksal Patars bereitete ihr Schuldgefühle. Gewiss, sie hatte das Tote Ding verbannt, aber dadurch war auch ein Lebender gestorben. Ihr Vater wäre nicht so unbeholfen gewesen…
Die Zweitletzte in der Schlange war ein kleines Mädchen, dessen schwarzes Haar zu zwei Zöpfen geflochten war. Als Sabriel sie anblickte, erinnerte sie sich an etwas, das Touchstone gesagt hatte. Sie blieb stehen und nahm die Hände des Mädchens in die ihren.
»Wie heißt du, Kleine?«, fragte sie. Ein Gefühl, dies alles schon einmal erlebt zu haben, bemächtigte sich ihrer – die Erinnerung einer verstörten Erstklässlerin, die zögernd die Hand nach der älteren Schülerin ausstreckte, die an diesem ersten Tag am Wyverley College ihre Führerin sein sollte. Sabriel hatte während ihrer Zeit in Wyverley beide Seiten erlebt.
»Aline«, antwortete die Kleine und lächelte Sabriel an. Ihre Augen waren klar und lebhaft. Sie war zu jung, als dass die Verzweiflung und die Angst, welche die Augen der Älteren trübten, den ihren schon etwas anhaben konnten.
»Erzähl mir, was du über die Große Charter gelernt hast«, forderte Sabriel das Mädchen in dem vertrauten mütterlichen und im Grunde nichts sagenden Tonfall auf, dessen sich die Schulinspektorin bedient hatte, wenn sie zweimal im Jahr jede Klasse in Wyverley besuchte.
»Ich kenne das Lied…«, antwortete Aline ein wenig zweifelnd und runzelte die Stirn. »Soll ich es singen, wie wir es in der Klasse tun?«
Sabriel nickte.
»Wir tanzen auch um den Stein herum«, vertraute Aline ihr an. Sie richtete sich gerade auf, stellte einen Fuß vor und bog die Arme nach hinten, um im Rücken zu klatschen.
»Fünf Große Chartern vereinen das Land Zusammengefügt und Hand in Hand Die erste in jenen, die auf dem Thron sich finden Die zweite in denen, welche die Toten binden Die dritte und fünfte wurden zu Mörtel und Stein Die vierte sieht alles in gefrorenem Wasser allein.«
»Danke, Aline, das hast du sehr schön gemacht«, lobte Sabriel.
Sie strich dem Kind durchs Haar und beeilte sich, die letzten Abschiedsgrüße hinter sich zu bringen. Plötzlich wollte sie nur noch raus aus dem Rauch und dem Fischgestank, hinaus in die reine, regnerische Luft, wo sie klar denken konnte.
»Jetzt weißt du es!«, wisperte Mogget, der auf ihre Arme sprang, um die Pfützen zu meiden. »Ich kann es dir immer noch nicht sagen, aber du weißt jetzt, dass eine in deinem Blut ist.«
»Zwei«, erwiderte Sabriel. »›Zwei in denen, welche die Toten binden.‹ Oder war es die zweite in der Aufzählung? ›Die zweite in denen… ‹ Ach, ich kann auch nicht darüber reden!«
Aber sie dachte über die Fragen nach, die sie gern stellen würde, während Touchstone ihr an Bord des kleinen Fischerboots half. Es lag an dem Muschelstrand, der den Hafen der Insel bildete.
Eine der Großen Chartern befand sich im
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