Das alte Königreich 01 - Sabriel
sonst auch sein mochte, hier dauerte es eine Weile, ehe er wirkte, weil der Einfluss der gebrochenen Chartersteine gewaltig war.
Das schwache Kerzenlicht zeigte ihnen feuchte, zerbröckelnde Stufen, die fast gerade nach unten führten – keine Biegungen, keine Absätze, lediglich eine gerade Treppe in die Dunkelheit.
Sabriel tastete sich vorsichtig hinunter. Der weiche Stein löste sich unter ihren schweren Stiefeln, und sie musste aufpassen, dass wenigstens ihre Absätze festen Halt fanden. Auf diese Weise kamen sie nur langsam voran. Touchstone folgte Sabriel dichtauf. Der Schein seiner Kerze warf ihren Schatten auf die Stufen vor ihr, so dass sie sich verlängert und verzerrt in die dunkle Tiefe gleiten sah.
Sie roch das Reservoir, ehe sie es sah, als sie etwa die vierzigste Stufe erreicht hatte. Es war ein kalter, feuchter Geruch, der in ihre Nase und Lunge schnitt und den Eindruck eisiger Weite vermittelte.
Dann endete die Treppe an einem Türbogen zu einer riesigen, rechteckigen Halle, in der sich stützende Steinsäulen wie ein Wald zu einer gut sechzig Fuß hohen Decke streckten. Der Boden der Halle bestand nicht aus Stein, sondern aus Wasser, das kalt und still war. An den Wänden fielen bleiche Schächte aus Sonnenlicht so gerade wie die Stützsäulen herab und bildeten Lichtscheiben auf der Wasseroberfläche. Dadurch wurde der Rand des Reservoirs zu einer komplexen Studie aus Licht und Schatten, während die Mitte dunkel blieb und nichts erkennen ließ.
Sabriel spürte Touchstones Berührung auf ihrer Schulter und hörte sein Wispern:
»Es reicht bis gut über die Hüften. Versucht so leise wie möglich hineinzugleiten. Gebt mir bitte Eure Kerze.«
Sabriel nickte, reichte ihm die Kerze, steckte ihr Schwert ein und setzte sich auf die letzte Stufe, ehe sie ins Wasser glitt.
Es war kalt, aber trotzdem halbwegs erträglich. So vorsichtig sie auch war, das Wasser kräuselte sich silbern in der Dunkelheit und plätscherte leise. Sabriels Füße setzten auf dem Grund auf, und sie unterdrückte einen Aufschrei – nicht wegen der Kälte, sondern weil sie unvermittelt die zwei gespaltenen Steine der Großen Charter spürte. Es traf sie wie ein plötzlicher Anfall von Darmgrippe, mit Bauchkrämpfen, Schweißausbruch und Schwindelgefühl. Zusammengekrümmt klammerte sie sich an die Stufe, bis die Schmerzen ein wenig nachließen. Es war hier viel schlimmer als bei den geringeren Chartersteinen auf dem Spaltkamm und der Kuppe von Nestowe.
»Was ist?«, erkundigte Touchstone sich leise.
»Die… die gebrochenen Steine«, murmelte Sabriel. Sie holte tief Atem und zwang sich, den Schmerz nicht zu beachten. »Ich halte es schon aus. Sei vorsichtig, wenn du ins Wasser steigst.«
Sie zog ihr Schwert und nahm Touchstone die Kerze wieder ab. Obwohl er darauf vorbereitet war, sah sie ihn zusammenzucken, als er den Grund der Zisterne berührte und dabei ungewollt das Wasser kräuselte. Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Sabriel erwartete, dass Mogget ihr auf die Schulter springen würde, weil er Touchstone offenbar nicht sonderlich mochte, doch die Katze überraschte sie, indem sie sich doch für Touchstone entschied. Dessen Überraschung war nicht geringer als die Sabriels, doch er fasste sich rasch. Mogget schlang sich um seinen Hals und miaute leise.
»Haltet euch am Rand, wenn ihr könnt. Die Verderbnis – der Bruch – wird nahe der Mitte noch unangenehmere Wirkungen haben.«
Sabriel hob bestätigend das Schwert und ging entlang der linken Wand voraus. Auch jetzt war sie so vorsichtig wie möglich. Trotzdem erschien ihr das Plätschern des Wassers schrecklich laut, als sie hindurchwateten; es hallte von den Wänden wider, breitete sich nach oben durch den riesigen Raum aus und vermischte sich mit den übrigen Geräuschen in der Zisterne – dem Platschen von Wassertropfen, die von der Decke und den Säulen fielen und auf die spiegelnde Oberfläche trafen.
Sabriel spürte keine Toten, wusste jedoch nicht, ob dies an den gebrochenen Steinen lag, die ihr Kopfschmerzen verursachten wie ständiger Lärm. Ihr Magen verkrampfte sich und sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund.
Sie hatten gerade die Nordwestecke erreicht, direkt unter einem der Lichtschächte, als es plötzlich dunkler wurde und sofort Finsternis im Reservoir herrschte, eine Finsternis, die nur von den winzigen Kerzenflammen gemildert wurde.
»Eine Wolke«, flüsterte Touchstone. »Sie wird gleich weiterziehen.«
Mit angehaltenem Atem blickten
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