Das alte Königreich 01 - Sabriel
stehen blieben und hinaufblickten. »Das war vor etwa zwanzig Jahren. Trotz allem Abwehrzauber der Abhorsen, die dort waren, wurde es von Toten heimgesucht. Man erzählt sich, dass der Regent wahnsinnig wurde und versuchte, die Kreaturen der Nacht mit Feuer zu vertreiben.«
»Was ist aus ihm geworden?«, erkundigte Sabriel sich.
»Oh, entschuldige, es war eine Frau«, sagte Mogget. »Sie starb in dem Feuer – oder die Toten überwältigten sie. Das war das Ende aller Versuche, das Königreich zu regieren.«
»Es war ein wunderschönes Schloss«, murmelte Touchstone gedankenverloren. »Man konnte über die Saere schauen. Es hatte hohe Decken und ein gut durchdachtes System von Luken und Schächten, um Licht und die Seeluft einzulassen. Irgendwo im Schloss wurde stets musiziert und getanzt, und das Mittsommernachtsfest auf dem Dachgarten mit tausend brennenden Duftkerzen war wundervoll…«
Er seufzte und deutete auf eine Lücke im Zaun.
»Gehen wir doch gleich hier durch. In einer der prächtigen künstlichen Höhlen im Park gibt es eine Tür zum Reservoir. Nur fünfzig Stufen hinunter zum Wasser statt der hundertfünfzig vom Schloss aus.«
»Hundertsechsundfünfzig, soviel ich mich erinnere«, verbesserte Mogget ihn.
Touchstone zuckte die Schultern und kletterte durch die Lücke auf den weichen Rasen des Parks. Es waren weder Menschen noch Dinge zu sehen. Trotzdem zog er vorsichtshalber seine Degen. Weiter vorn wuchsen riesige Bäume, die gewaltige Schatten warfen.
Sabriel folgte ihm. Mogget sprang von ihren Schultern und eilte schnuppernd umher. Sabriel zog ihr Schwert ebenfalls, ließ aber die Glocken, wo sie waren. Es gab zwar Tote hier, doch sie waren weiter entfernt. Im Tageslicht lag der Park zu offen für sie in der Sonne.
Die Prachthöhlen waren nur fünf Minuten entfernt. Auf dem Weg dorthin kamen die Gefährten an einem übel riechenden, ehemaligen Springbrunnen mit sieben bärtigen Tritonen vorbei. Ihre Münder steckten voll verrottetem Laub, und das Wasser des Brunnens war eine Brühe aus gelbgrünem Schlamm.
Es gab drei Höhleneingänge, die sich unmittelbar nebeneinander befanden. Touchstone ging rasch zum mittleren, dem größten. Marmorstufen führten die ersten drei oder vier Fuß hinunter, Marmorsäulen stützten die Decke des Eingangs.
»Sie reicht nur etwa vierzig Fuß in den Berg«, erklärte Touchstone, als sie ihre Kerzen anzündeten. Die Schwefelhölzchen verbesserten den Gestank der abgestandenen Höhlenluft nicht gerade. »Sie waren für Picknicks im Hochsommer gedacht. Am Ende dieser Höhle befindet sich eine Tür, die wahrscheinlich verschlossen ist, aber mit einem Charterspruch lässt sie sich wohl öffnen. Die Treppe ist gleich dahinter. Sie ist ziemlich steil und schmal und es gibt dort keine Lichtschächte.«
»Dann gehe ich voraus«, bestimmte Sabriel mit einer Entschlossenheit, die ihre weichen Knie und das Kribbeln in ihrem Bauch Lügen strafte. »Ich kann keine Toten spüren, trotzdem könnten dort welche sein…«
»Na gut«, murmelte Touchstone nach kurzem Zögern.
»Du brauchst nicht mitzukommen«, platzte Sabriel plötzlich heraus, während sie mit den Kerzen, die im Sonnenschein flackerten, vor der Höhle standen. Sie fühlte sich plötzlich verantwortlich für ihn. Er sah verängstigt aus, viel blasser als sonst, fast wie ein vom Tod ausgesaugter Nekromant. In dem Reservoir waren grauenvolle Dinge geschehen, die ihn in den Wahnsinn getrieben hatten. Doch trotz seiner Selbstanklage glaubte Sabriel nicht, dass es seine Schuld gewesen war. Außerdem befand sich nicht sein Vater dort unten. Touchstone war kein Abhorsen.
»Ich muss aber mit«, entgegnete Touchstone und biss sich unruhig auf die Unterlippe. »Sonst werde ich mich nie von meinen Erinnerungen befreien können. Ich muss etwas tun, mir neue, bessere Erinnerungen schaffen. Ich muss Erlösung suchen. Außerdem bin ich immer noch Angehöriger der Königlichen Garde. Es ist meine Pflicht.«
»Wenn du meinst«, murmelte Sabriel. »Jedenfalls bin ich froh, dass du hier bist.«
»Ich auch – auf seltsame Weise«, erwiderte Touchstone und lächelte beinahe.
»Ich nicht«, knurrte Mogget heftig. »Aber sehen wir zu, dass wir weiterkommen. Wir vergeuden Sonnenschein.«
Die Tür war verschlossen, ließ sich jedoch mit Sabriels Zauber leicht öffnen: Die entsprechenden, einfachen Chartersymbole flossen von ihren Gedanken in den Zeigefinger, den sie aufs Schlüsselloch gedrückt hatte. Doch so stark der Zauber
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