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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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Trotzes schlüpfte sie aus dem neuen Kittel, warf ihn auf den Boden und zog stattdessen die neutrale Kleidung an, welche die Clayr beim Küchendienst trugen: ein langes graues Baumwollhemd, das bis zu den Knien reichte, über dünnen blauen Leggings. Dazu gehörte noch eine Schürze, die Lirael jedoch zurückließ.
    Es war ein seltsames Gefühl, die Nordpassage ganz allein zu beschreiten. Normalerweise traf man in diesem Durchgang Dutzende von Clayr an, die entweder von der Neuntagewache kamen oder dorthin unterwegs waren – oder zu den unzähligen anderen Arbeiten für die Gemeinschaft. Der Clayr-Gletscher war im Grunde eine kleine, wenn auch sehr ungewöhnliche Stadt, und die Hauptaufgabe ihrer Bewohnerinnen bestand darin, in die Zukunft zu blicken – genauer gesagt, in die zahlreichen Möglichkeiten der Zukunft, wie die Clayr ihren unbedarften Besuchern ständig erklären mussten.
    An dem Punkt, wo die Treppe von der Nordpassage wegführte, vergewisserte Lirael sich zuerst, dass niemand in der Nähe war. Dann bog sie in den Treppenaufgang ab und hielt Ausschau nach dem Schlüsselloch. Als sie es gefunden hatte, holte sie den Schlüssel hervor, den sie an einer Kette um den Hals trug. Alle Clayr hatten solche Schlüssel, mit denen die meisten normalen Türen geöffnet werden konnten. Das Sternenberg-Tor wurde nicht so oft benutzt; trotzdem glaubte Lirael nicht, dass sie einen Spezialschlüssel brauchte.
    Es war nur das Schlüsselloch zu sehen, jedoch keine Tür, bis Lirael den Schlüssel hineinsteckte und zweimal drehte. Dann hob sich eine dünne silbrige Linie vom Boden ab, die langsam eine Tür in den gelblichen Stein zeichnete.
    Lirael schob die Tür auf. Kalte Luft schlug ihr entgegen, deshalb hastete sie schnell hindurch, denn falls doch jemand in der Nähe war, würde der kalte Luftzug ihm auffallen. Die Clayr lebten zwar in einem Berg, der von einem Gletscher halb erdrückt wurde, aber sie liebten die Kälte nicht sonderlich.
    Die Tür schloss sich wieder, und die Silberlinien der Umrisse schwanden. Vor Lirael erhoben sich die Stufen in einer geraden Linie. Die Charterzeichen darüber sorgten für diffuses, dämmeriges Licht. Die einzelnen Stufen waren höher, als Lirael es gewohnt war. Sie war zwar vor einigen Jahren schon einmal diese Treppe hinaufgestiegen, bei einem Klassenausflug, doch sie hatte ganz vergessen, wie hoch die Stufen waren. Sie verzog das Gesicht, als sie den Aufstieg begann. Bald protestierten ihre Wadenmuskeln bei der zusätzlichen Höhe von sechs Zoll.
    Neben den ersten hundert Stufen – die Treppe verlief hier vollkommen gerade nach oben – führte ein bronzener Handlauf entlang. Die Kühle des Metalls fühlte sich beruhigend unter Liraels Händen an. Wie immer beim Treppensteigen begann sie die Stufen zu zählen. Der regelmäßige Rhythmus milderte die trüben Gedanken und vertrieb die schrecklichen Bilder, in denen sie sich einen endlosen Eishang hinunterfallen sah.
    Lirael bemerkte es kaum, als der Handlauf endete und die Treppe sich nach innen zu der hohen Spirale bog, die zur Kuppe des Berges führte, des Sternenbergs. Gegenüber erhob sich ein weiterer hoher Berg, der Abendberg; dazwischen erstreckte sich bläulich schimmernd der Gletscher. Einst hatte er einen eigenen Namen gehabt, der aber längst vergessen war. Deshalb nannte man diesen Gletscher seit Tausenden von Jahren nach den Clayr, die über, neben und unter ihm lebten. Im Lauf der Zeit hatte man diesen Namen auch auf das Reich der Clayr ausgedehnt, so dass sowohl die gewaltige Eismasse wie die Hallen aus Stein nun als Clayr-Gletscher bekannt waren.
    Seit Jahrtausenden lebten die Clayr nun schon im Berg. Zuerst waren sie den Tunnels gefolgt, die von den inzwischen fast ausgestorbenen Grabwürmern geschaffen worden waren, ehe sie – mit Chartermagie und Körperkraft – ihre eigenen Grabungen aufnahmen. Gleichzeitig hatte der Gletscher sich unaufhaltsam dem Tal und den beiden angrenzenden Bergen genähert. Das Eis bahnte sich einen Weg zwischen dem Felsgestein hindurch, und an einigen Stellen brach der Gletscher mit schrecklicher Naturgewalt auch durch die Tunnels der Clayr.
    Natürlich konnten die Clayr Sehen, welchen Weg der Gletscher nahm, doch das hatte verschiedene ehrgeizige Baumeister längst vergangener Zeit nicht davon abgehalten, Stollen und Treppen zu bauen, auch wenn ihr Werk meist nur so lange hielt, wie sie lebten, manchmal auch drei oder vier Generationen länger; aber das war für sie lange genug, ihr

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