Das alte Königreich 02 - Lirael
beginnen.«
Lirael ließ den Teller stehen und durchquerte das Refektorium wie eine Schlafwandlerin. Ihre Finger streiften im Vorbeigehen leicht die Tischecken. Sie konnte nur an Sohraes Stimme denken, die in ihrem Kopf widerhallte:
»Die Gabe des Sehens ist in unserer Schwester Annisele erwacht…«
Annisele. Annisele würde das weiße Gewand tragen und mit Silber und Mondsteinen gekrönt werden, während Lirael wieder in ihren besten blauen Kittel schlüpfen musste, in die Uniform eines Kindes. In den Kittel, der schon gar keinen Saum mehr hatte, weil er so oft ausgelassen und nun trotzdem zu kurz war.
Annisele war vor zehn Tagen erst elf geworden. Aber ihr Geburtstag war nichts verglichen mit diesem Tag, dem Tag ihres Erwachens.
Geburtstage sind
nichts,
dachte Lirael, während sie einen Fuß vor den anderen setzte, die sechshundert Stufen vom Unteren Refektorium zur Westpassage hinaufstieg und von dort die zweihundert Schritte zur hinteren Tür der Halle der Kinder machte. Sie zählte jeden Schritt, hielt den Kopf gesenkt, blickte niemandem in die Augen. Sie sah nur wallende weiße Gewänder und schwarze Schuhe an sich vorbeikommen, während die Clayr zur Großen Halle eilten, um das Mädchen zu ehren, das in die Reihen jener aufgenommen wurde, welche die Zukunft Sahen.
Als sie ihr Zimmer betrat, war auch die kleinste Freude über ihren Geburtstag gewichen. Ausgelöscht wie eine Kerze. Jetzt ist es Anniseles Tag, dachte sie. Sie musste versuchen, sich für Annisele zu freuen, und den schrecklichen Schmerz verdrängen, den ihr Herz empfand.
2
EINE VERLORENE ZUKUNFT
Lirael warf sich auf ihr Bett und versuchte ihre Verzweiflung niederzukämpfen. Sie musste sich für Anniseles Erwachenszeremonie umkleiden. Doch sie konnte sich nicht dazu durchringen, aufzustehen; sie hatte immer wieder nur den grausamen Augenblick im Unteren Refektorium vor Augen, als die Stimme der Neuntagewache nicht ihren, sondern Anniseles Namen nannte. Schließlich gelang es ihr, wenigstens den ärgsten Schmerz zu verdrängen und an die unmittelbare Zukunft zu denken statt an die Vergangenheit. Lirael beschloss, nicht zu Anniseles Erwachenszeremonie zu gehen.
Es war unwahrscheinlich, dass ihre Abwesenheit jemandem auffallen würde, doch es war möglich, dass vor Beginn der Zeremonie jemand kam, um sie zu holen. Dieser Gedanke verlieh ihr die Kraft, endlich vom Bett aufzustehen und sich nach einem Versteck umzuschauen. Unter ihrem schlichten Schragenbett war es zu unbequem und staubig. Der Schrank? Nein – seine Kistenform und das einfache Kiefernholz erinnerten Lirael zu sehr an einen aufrecht stehenden Sarg. Sie hatte schon immer eine morbide Fantasie gehabt. Als kleines Mädchen hatte sie gern dramatische Todesszenen aus berühmten Geschichten nachgespielt. Und sie dachte oft über den Tod nach, vor allem über den eigenen.
»Tod«, flüsterte Lirael und schauderte, als sie das Wort ausgesprochen hörte. Sie wiederholte es, diesmal ein wenig lauter. Tod – eine einfache Möglichkeit, allem zu entkommen, was sie quälte.
Lirael überlegte. Wenn sie in den Tod ging, brauchte sie nicht mehr zuzusehen, wie Mädchen, die wesentlich jünger waren als sie, die Gabe des Sehens erhielten. Sie müsste nicht inmitten einer Schar Kinder in blauen Kitteln stehen. Kinder, die sie während der Zeremonie des Erwachens verstohlen unter dichten Wimpern beobachteten. Lirael kannte diese Art von Blicken und sah die Furcht darin: Die Kinder hatten Angst, sie könnten wie Lirael sein, dazu verdammt, nie das Eine zu erlangen, das wirklich von Bedeutung war…
Und wenn sie in den Tod ging, musste sie sich nie mehr den mitleidigen Blicken aussetzen, mit denen die Clayr sie bedachten, oder sich ihre Fragen nach ihrem Befinden anhören. Als wenn Worte beschreiben könnten, wie man sich fühlte, mit vierzehn noch ohne die Sicht zu sein!
»Tod«, flüsterte Lirael aufs Neue und kostete das Wort auf der Zunge. Was könnte es sonst noch für sie geben? Bisher hatte die Hoffnung sie aufrecht gehalten, dass sie eines Tages die Gabe des Sehens erhielt. Doch jetzt war sie vierzehn! Wer hatte je von einer Clayr gehört, die mit vierzehn ohne Sicht war? Nie waren ihr die Dinge so hoffnungslos erschienen wie heute.
»Es ist das Beste«, sagte Lirael laut, als teile sie einer Freundin eine wichtige Entscheidung mit. Es klang entschlossen, doch innerlich wurde sie von Zweifeln geplagt. Selbstmord gab es bei den Clayr so gut wie gar nicht. Und wenn Lirael
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