Das alte Königreich 02 - Lirael
sich selbst umbrachte, wäre es für die Clayr die letzte und endgültige Bestätigung, dass sie tatsächlich nicht dazugehörte.
Dennoch war es vermutlich das Beste. Nur, wie sollte sie es anstellen? Liraels Blick schweifte zu ihrem Übungsflorett, das in seiner Scheide an der Tür hing. Sie könnte sich in die Waffe stürzen, aber das hätte vermutlich einen langsamen und schmerzvollen Tod zur Folge. Außerdem würde bestimmt jemand ihre Schreie hören und Hilfe holen.
Wahrscheinlich gab es einen Zauber, der ihr den Atem raubte, ihre Lunge austrocknete und ihr die Kehle zuschnürte. Aber diesen Zauber fand sie bestimmt nicht in den Schulbüchern, ihrem Chartermagie-Lehrbuch oder dem Charterzeichen-Index, die beide auf dem Schreibtisch lagen, nur ein paar Schritte entfernt. Nein, sie würde in der Großen Bibliothek nach einem solchen Zauberspruch suchen müssen. Doch solche Magie war bestimmt durch Zauber und Schlüssel geschützt…
Blieben nur zwei verhältnismäßig einfache Möglichkeiten, ein Ende zu machen: die Kälte und die Berge. »Der Gletscher«, wisperte Lirael. Sie würde die Sternenberg-Treppe hinaufsteigen, während alle anderen an Anniseles Erwachenszeremonie teilnahmen, und sich dann hinunter aufs Eis werfen. Falls man sich überhaupt die Mühe machte, nach ihr zu suchen, würde man nur noch ihren gefrorenen, zerschmetterten Körper finden… und dann würden alle erkennen, welch schreckliches Schicksal es war, eine Clayr ohne Sicht zu sein.
Tränen füllten ihre Augen, als sie sich vorstellte, wie ihre Leiche durch die Große Halle getragen wurde und die Menge stumm zusah, wie das Blau ihres Kinderkittels sich vom Eis und Schnee in ein glitzerndes Weiß verwandelt hatte. Ein Klopfen an der Tür riss Lirael aus ihren schrecklichen Gedanken. Erleichtert sprang sie auf. Die Neuntagewache musste sie endlich Gesehen haben, zum ersten Mal überhaupt. Bestimmt hatten sie im Voraus Gesehen, wie Lirael auf den Gletscher gestiegen und in die Tiefe gesprungen war; darum hatten sie jemanden gesandt, um sie daran zu hindern und ihr zu sagen, dass auch sie, Lirael, eines Tages die Sicht erhielt und dass bald alles gut würde.
Die Tür wurde geöffnet, noch ehe Lirael »Herein« sagen konnte. Dies allein zeigte ihr, dass doch keine der Neuntagewachen gekommen war, weil sie sich um ihre Sicherheit sorgte. Stattdessen war es Tante Kirrith, die für die Kinder verantwortliche Aufpasserin, die Lirael nie irgendwelche Vorrechte eingeräumt und ihr nie die Zuneigung entgegengebracht hatte, wie man es von einer leiblichen Tante erwarten konnte.
»Da bist du ja!«, rief Kirrith in gespielt herzlichem Tonfall. »Ich habe beim Frühstück nach dir Ausschau gehalten, aber da war ein solches Gedränge, dass ich dich einfach nicht entdeckt habe. Alles Gute zum Geburtstag, Lirael!«
Lirael starrte ihre Tante an; dann blickte sie auf das Geschenk, das Kirrith ihr hinhielt. Es war ein großes rechteckiges Päckchen in rot-blauem, mit Gold bestäubtem, sehr hübschem Papier. Tante Kirrith hatte ihr noch nie ein Geschenk gemacht und dies damit erklärt, dass sie selbst nie Geschenke annehme. Lirael fand, dass Kirrith dabei das Wesentliche übersah: Es ging ums Geben, nicht ums Nehmen.
»Nun mach es schon auf!«, sagte Kirrith. »Es ist nicht mehr viel Zeit bis zur Erwachenszeremonie. Erstaunlich, dass es die kleine Annisele getroffen hat.«
Lirael nahm das Päckchen. Es war weich und ziemlich schwer. Einen Augenblick dachte sie nicht mehr daran, sich umzubringen; ihre Neugier war größer. Was für ein Geschenk mochte das sein?
Doch als sie das Päckchen betastete, überkam sie eine ungute Vorahnung. Rasch riss sie ein Loch in eine Ecke der Verpackung und sah das verräterische Blau. »Ein Kittel…«, sagte Lirael. Die Worte schienen aus weiter Ferne und von jemand anderem zu kommen. »Ein Kinderkittel.«
»Ja«, bestätigte Kirrith in der vollen Pracht ihres weißen Gewandes und des Reifs aus Silber und Mondstein, der sich um ihr hellblondes Haar schloss. »Dein alter Kittel ist dir zu kurz geworden, und du wächst immer schneller aus deinen Sachen heraus…«
Sie redete weiter, doch Lirael hörte es kaum noch. Nichts erschien ihr mehr wirklich. Weder der neue Kittel noch Tante Kirrith, die weiterplapperte, noch sonst etwas.
»Komm, zieh dich an«, forderte Kirrith sie auf und strich über ihr Gewand. Sie war eine kräftige, hoch gewachsene Frau, eine der körperlich größten Frauen der Clayr. Wenn Lirael ihr
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