Das alte Königreich 02 - Lirael
Werk als lohnend zu erachten.
Lirael dachte an diese frühen Erbauer und fragte sich, weshalb sie die Treppe mit so unbequem hohen Stufen geschaffen hatten, denn nach einer Weile konnte nicht einmal das stumpfsinnige Zählen ihre Fantasie zügeln. Sie stellte sich vor, wie Annisele jetzt aussah, in diesem Augenblick. Wahrscheinlich stand sie inmitten der Kinder am nördlichen Ende der Großen Halle, eine einzelne Gestalt in Weiß in einer großen blauen Schar. Bestimmt würde sie zur Decke blicken und sich daher kaum der Reihen weiß gewandeter Clayr bewusst sein, die in den Bänken zu beiden Seiten der Halle saßen. Diese Bänke waren aus altem, dunklem Mahagoni gefertigt und mit Seidenkissen gepolstert, die alle fünfzig Jahre mit viel Pomp ausgewechselt wurden.
Am anderen Ende der Halle würde die Stimme der Neuntagewache stehen – falls ihre Pflichten es erlaubten, auch einige der Wachen selbst. Sie würden den Charterstein umgeben, der aus dem Boden der Halle ragte, ein einzelner Menhir, auf dem es von all den glühenden, ständig wechselnden Zeichen der Charter wimmelte, die alles Sichtbare und Unsichtbare auf der Welt beschrieben. Und auf dem Charterstein – der so hoch war, dass nur die Stimme mit der Metallspitze ihres Stabes hinauflangen konnte – würde der Reif der neuen Clayr liegen, und das Silber und die Mondsteine würden die Charterzeichen auf dem Stein spiegeln.
Lirael zwang ihre müden Beine eine weitere Stufe hinauf. Anniseles Weg würde nicht so ermüdend sein, nur ein paar hundert Schritte an lächelnden Gesichtern vorbei. Dann, wenn sie schließlich den Reif aufgesetzt bekam, würden alle Clayr sich erheben, und ihr gewaltiger Jubel würde durch die Halle bis nach draußen schallen und das Erwachen von Annisele verkünden, einer wahren Clayr, einer Herrin der Sicht, von allen anerkannt.
Im Gegensatz zu Lirael, die wie immer allein war, von keinem beachtet. Trotzig wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Nur noch weitere hundert Stufen, dann hatte sie das Sternenberg-Tor erreicht. Und sobald sie durchs Tor war und die weite Terrasse davor überquert hatte, würde Lirael am Rand des Gletschers stehen und in den eisigen Tod hinunterschauen
3
PAPIERSEGLER
Am Kopf der Sternenberg-Treppe angekommen, ruhte Lirael sich aus, bis die Kälte, die durch den Stein drang, unerträglich wurde. Sie zog die dicke warme Kleidung an und setzte die Brille auf, durch deren Gläser die Welt sich grün färbte. Als Letztes holte sie den Seidenschal aus der Manteltasche, band ihn um Nase und Mund und faltete die Ohrenklappen ihrer Filzmütze herunter.
So gekleidet, hätte sie eine der Clayr sein können. Niemand konnte ihr Gesicht, ihr Haar oder ihre Augen erkennen. Sie sah aus wie jede andere Clayr. Wenn man später ihre Leiche fand, würde man nicht einmal wissen, um wen es sich bei ihr handelte, bis man ihr Mütze, Schal und Brille abnahm.
Lirael würde zum ersten und letzten Mal wie eine der Clayr aussehen.
Trotzdem zögerte sie vor der Tür, die von der Treppe zum Papiersegler-Hangar und zum Sternenberg-Tor führte. Noch konnte sie umkehren; noch war es nicht zu spät. Sie könnte behaupten, sich den Magen verdorben zu haben und deshalb auf ihrem Zimmer geblieben zu sein. Wenn sie sich beeilte, könnte sie dort sein, bevor die anderen von der Erwachenszeremonie zurückkamen.
Doch das würde nichts ändern. Dort unten gab es nichts, worauf sie sich freuen konnte. Es war besser, bis zur Klippe weiterzugehen. Dort konnte sie immer noch ihre endgültige Entscheidung treffen.
Ein wenig unbeholfen in ihren dicken Handschuhen holte sie erneut ihren Schlüssel hervor und sperrte die Tür auf. Diesmal war es eine sichtbare Tür, aber auch sie war durch Zauber bewacht. Lirael spürte, wie die Chartermagie in der Tür durch den Schlüssel und den Pelz ihrer Handschuhe in ihre Hände strömte. Sie fuhr zusammen, entspannte sich dann aber wieder, als der Zauber sich zurückzog. Was immer er bewirkte und wovor er auch schützte – an ihr war er nicht interessiert.
Vor der Tür war es merklich kälter, obwohl Lirael sich noch innerhalb des Berges befand. Dieser gewaltige Raum war der Papiersegler-Hangar, wo die Clayr ihre magischen Luftfahrzeuge unterstellten. Drei von ihnen waren in unmittelbarer Nähe abgestellt. Sie sahen fast wie schmale Kanus mit Falkenschwingen und -schwänzen aus. Lirael hätte sie gern berührt, um festzustellen, ob sie sich wirklich wie Papier anfühlten, aber sie war
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