Das alte Königreich 02 - Lirael
Frau war, sie trug die sieben Glocken eines Nekromanten. Die Frau streifte den Schulterriemen um und griff nach ihrem Schwert. Es war länger als die Schwerter der Clayr und auch älter. Lirael spürte selbst in ihrem Versteck die Macht, die in der Waffe steckte. In dem Schwert – und in den beiden Personen – befand sich Chartermagie.
Und in den Glocken, wie Lirael erkannte. Jetzt wusste sie auch, wer die Frau war. Nekromantie war Freie Magie und im Königreich verboten – genau wie die Glocken, deren die Nekromanten sich bedienten. Das galt aber nicht für die Glocken dieser Frau, denn deren Aufgabe bestand darin, das von den Nekromanten verursachte Böse zu vernichten. Es war die Frau, welche die Toten zur Ruhe schickte; die Frau, die als einzige Freie Magie mit der Charter vereinte.
Lirael schauderte, doch nicht vor Kälte, als ihr bewusst wurde, dass sie sich nur etwa zwanzig Meter von der Abhorsen entfernt befand. Vor vielen Jahren hatte die legendäre Sabriel den in ein hölzernes Standbild verwandelten Touchstone gerettet und mit ihm den Größeren Toten geschlagen, der sich Kerrigor nannte und fast das gesamte Königreich vernichtet hatte.
Lirael blickte wieder auf den Mann, bemerkte erneut die zwei Degen und die Art und Weise, wie er dicht bei Sabriel stand. Er muss der König sein, wurde ihr klar, und sie riss vor Staunen und Fassungslosigkeit den Mund auf. König Touchstone und die Abhorsen Sabriel! So nahe, dass sie zu ihnen gehen und mit ihnen sprechen könnte – wenn sie den Mut dazu aufbrächte.
Doch das tat sie nicht. Sie drückte sich noch tiefer in den Schnee, ignorierte Feuchtigkeit und Kälte und wartete, was geschehen würde. Sie wusste nicht, wie man einen Kratzfuß oder Hofknicks machte oder wie der König und die Abhorsen anzureden waren. Vor allem aber wusste sie nicht, wie sie ihre Anwesenheit hier draußen erklären sollte.
Nachdem sie sich gerüstet hatten, steckten Sabriel und Touchstone die Köpfe zusammen und sprachen leise miteinander. Lirael lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören. Der Wind wehte die Worte der beiden in die falsche Richtung. Doch es war offensichtlich, dass sie auf etwas warteten – oder auf jemanden.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Lirael drehte bedächtig den Kopf zum Sternenberg-Tor, wobei sie darauf achtete, dass der Schnee um sie herum nicht in Bewegung geriet. Sie sah eine kleine Schar Clayr durchs Tor kommen und über die Terrasse eilen. Offenbar waren sie direkt von der Erwachenszeremonie hierher gekommen, denn die meisten hatten lediglich Umhänge oder Mäntel über ihre weißen Gewänder geworfen, und fast alle trugen noch ihre Mondsteinreife.
Lirael erkannte die beiden, die vorneweg liefen. Es waren die Zwillinge Sanar und Ryelle, makellose Verkörperungen der vollkommenen Clayr. Ihre Sicht war so stark, dass sie fast jedes Mal zur Neuntagewache gehörten; deshalb war Lirael ihnen kaum einmal persönlich begegnet. Sie waren beide hoch gewachsen und von großer Schönheit. Ihr langes blondes Haar leuchtete in der Sonne noch heller als ihre Silberreife.
Ihnen folgten fünf weitere hochrangige Clayr – die wichtigsten im ganzen Gletscher, die zusätzlich zu ihren Aufgaben als Seherinnen bedeutende Ämter bekleideten: Small Jasell, beispielsweise, die als Letzte kam, war die oberste Verwalterin und für die Finanzen der Clayr sowie ihre Handelsbank zuständig.
Sie alle waren mächtig und einflussreich – und genau jene Clayr, denen Lirael in ihrer derzeitigen Situation am allerwenigsten begegnen wollte.
4
EIN GLITZERN IM SCHNEE
Als Sanar und Ryelle sowie die fünf anderen Clayr sich den illustren Besuchern näherten, rechnete Lirael damit, nun zu erleben, wie man den König und die Königin begrüßte, die obendrein noch die Abhorsen war.
Doch Sabriel und Touchstone warteten offenbar auf keine besonderen Ehrenbezeugungen. Sie umarmten Sanar und Ryelle und küssten sie auf beide Wangen, nachdem sie ihre Schals herunter- und die Brillen hochgezogen hatten. Wieder beugte Lirael sich vor und horchte. Der Wind blies immer noch in die falsche Richtung, jedoch nicht mehr so stark, so dass sie das Gespräch mithören konnte.
»Schön, euch wiederzusehen, Cousinen«, sagte Sabriel, und der König lächelte grüßend. Nun, da sie ihre Gesichter sehen konnte, fand Lirael, dass beide sehr müde wirkten.
»Wir haben euch vergangene Nacht Gesehen«, erwiderte Sanar – oder Ryelle? Lirael war sich nicht sicher. »Aber wir mussten
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