Das alte Königreich 02 - Lirael
kann ich nur bedauern, dass wir euch nicht zu warnen vermochten und euch auch nicht vorhersagen können, was geschehen wird.«
»Eine Kompanie der Garde reitet von Qyrre herbei«, sagte Touchstone. »Aber sie können in frühestens drei Tagen eintreffen. Wir selbst wollen morgen früh bei Robles Town sein.«
»Hoffentlich wird es ein heller Morgen«, fügte Sabriel hinzu. »Wenn die Berichte stimmen, beherrscht diese Nekromantin sehr viele Tote. Vielleicht sogar genügend, dass sie bei Nacht eine Stadt angreifen kann.«
»Ich glaube, einen Angriff auf Robles Town würden wir Sehen«, sagte Ryelle. »Aber dort ist nichts geschehen.«
»Das beruhigt mich«, erwiderte Touchstone, doch Lirael erkannte, dass er ihnen nicht völlig glaubte. Sie war selbst erschrocken, denn sie hatte noch nie davon gehört, dass die Sicht blockiert werden konnte oder dass es irgendeinen Ort gab, den die Clayr nicht Sehen konnten – sah man von Ancelstierre ab, aber das war etwas anderes. In Ancelstierre wirkte keine Magie – so wurde jedenfalls behauptet. Lirael kannte niemanden, der je in Ancelstierre gewesen war. Gerüchten zufolge war Sabriel dort aufgewachsen.
Während Lirael sich durch den Kopf gehen ließ, was sie soeben gehört hatte, frischte der Wind auf, so dass sie für kurze Zeit wieder nichts von dem verstehen konnte, was gesprochen wurde. Aber sie sah, dass die Clayr sich ehrerbietig vor Sabriel und Touchstone verneigten.
»Nicht so förmlich!«, hörte sie Touchstone dann lachend sagen.
Sabriel seufzte. »Wir sollten unseren Papiersegler gleich wieder wenden und weiterfliegen. Ich möchte auf dem Weg nach Robles Town das Haus besuchen.«
»Wollt ihr euch Rat holen bei…«, fragte Ryelle, doch den Rest verstand Lirael nicht, weil die Worte von einem heftigen Windstoß davongetragen wurden.
Sabriel antwortete etwas, doch Lirael konnte nur den letzten Teil verstehen: »… schläft immer noch den Großteil des Jahres unter Rannas…«
Dann verstand sie wieder nichts, während alle sich um den Papiersegler scharten und ihn umdrehten. Lirael streckte den Kopf so weit vor, wie sie es nur wagen konnte, und Schnee rutschte von ihrem Gesicht. Es machte sie wütend, dass sie die Gruppe zwar sehen, aber nur bruchstückhaft hören konnte. Einen Augenblick dachte sie schon daran, ihr Gehör mit einem Zauber zu schärfen. Sie hatte Hinweise auf einen solchen Zauber gesehen, aber sie kannte nicht alle Zeichen. Außerdem würden Sabriel und die anderen die Anwendung von Chartermagie in ihrer Nähe ganz sicher spüren.
Plötzlich ließ der Wind nach, und Lirael konnte wieder deutlich hören.
»Sie sind noch in der Schule in Ancelstierre«, antwortete Sabriel offenbar auf eine Frage Sanars. »Sie werden für die Ferien in drei… nein, vier Wochen hier sein. Wenn der Notfall behoben ist, holen wir sie vielleicht an der Mauer ab und bleiben ein paar Wochen in Belisaere beisammen. Aber ich fürchte, es kommt wieder etwas dazwischen, und dann muss einer von uns sich darum kümmern und wird fort sein, bis sie zurückmüssen.«
Ihre Stimme klang sehr traurig. Lirael sah, wie Touchstone beruhigend ihre Hand nahm.
»Wenigstens sind sie dort sicher«, sagte er. Sabriel nickte nur. Sie sah wieder sehr müde aus.
»Wir haben sie die Mauer überqueren Sehen… allerdings könnte es auch das nächste oder übernächste Mal sein«, sagte Ryelle. »Ellimere wird einmal wie du aussehen, Sabriel.«
»Zum Glück.« Touchstone lachte. »Obwohl sie in anderer Hinsicht viel von mir hat.«
Lirael erkannte, dass sie von ihren Kindern sprachen. Sie hatten zwei – eine Prinzessin, etwa in ihrem Alter, und einen Prinzen, der etwas jünger war. Sabriel und Touchstone sorgten sich offensichtlich sehr um ihre Kinder, und sie fehlten ihnen. Wieder einmal musste Lirael an ihre Mutter und ihren Vater denken, der sich anscheinend nichts aus ihr gemacht hatte. Wieder erinnerte sie sich an die Berührung von Arielles sanfter, kühler Hand. Doch ihre Mutter hatte sie verlassen, und was ihren Vater betraf, war nicht einmal sicher, dass er überhaupt von der Existenz seiner Tochter wusste…
»Sie wird einmal Königin«, warf eine kräftige Stimme ein und riss Liraels Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück. »Nein, wird sie nicht… oder vielleicht doch…«
Es war eine der anderen Clayr, eine ältere Frau, die mit der Stimme der Prophezeiung sprach, während ihre Augen etwas vollkommen anderes Sahen als die Schneeverwehung, auf die sie starrte. Dann
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