Das alte Königreich 02 - Lirael
abgesehen – drei oder vier Stockwerke und viele Fenster. Wie es schien, gab es auch einen Innenhof, denn Lirael sah Vögel hinein- und herausfliegen. Alles strahlte Freundlichkeit und Wärme aus. Offensichtlich war das Abhorsen-Haus keine Festung; man verließ sich auf andere Mittel der Verteidigung.
Lirael hob die Arme zur Sonne und atmete die klare, frische Luft, die vom Duft der Gärten erfüllt war. Sie befand sich in Frieden mit sich selbst und fühlte sich auf seltsame Weise zu Hause, obwohl hier alles ganz anders zu sein schien als in den Tunnels und Zimmern im Gletscher. Selbst die Gärten in den gewaltigen Räumen, die bemalten Decken und Charterzeichen-Sonnen konnten es nicht mit der majestätischen Weite des blauen Himmels und der Wärme der wirklichen Sonne aufnehmen.
Lirael atmete tief aus und wollte gerade die Arme senken, als sie einen Punkt hoch über sich sah. Einen Augenblick später schloss sich ihm eine dunkle Wolke an, die aus vielen größeren Punkten bestand. Lirael brauchte einige Sekunden, bis ihr klar wurde, dass der einzelne Punkt ein Vogel war, der direkt zu ihr herunterstieß, und dass es sich bei den größeren dunklen Gebilden ebenfalls um Vögel handelte – oder vielmehr Dinge, die wie Vögel flogen. Gleichzeitig meldete sich ihr Todessinn. Sam, der neben ihr stand, schrie plötzlich:
»Blutkrähen! Sie sind hinter einem Kurierfalken her!«
»Genauer gesagt sind sie unter ihm«, berichtigte ihn die Hündin, die mit zurückgelegtem Kopf in die Höhe starrte. »Er versucht hindurchzutauchen.«
Sie beobachteten besorgt, wie der Kurierfalke im Zickzack flog, um den Blutkrähen zu entgehen, doch es waren Hunderte, und sie hatten sich weit verteilt, so dass es für den Falken kaum ein Durchkommen gab.
»Wenn er es bis hier herunter schafft, werden sie nicht wagen, ihn zu verfolgen«, sagte Sam. »Der Fluss und das Haus sind zu nah.«
Lirael beobachtete den Falken gebannt. Sein Flug schien endlos zu dauern. Plötzlich traf er auf die schwarze Wolke und verschwand inmitten der Blutkrähen. Lirael hielt den Atem an. Der Falke tauchte nicht mehr auf. Immer noch kamen weitere Blutkrähen dazu, bis sich so viele auf so kleinem Raum drängten, dass sie zusammenprallten und schwarze Krähenkadaver zur Erde fielen.
»Sie haben den Falken erwischt«, sagte Sam düster. Dann schrie er erstaunt auf. Ein kleiner brauner Vogel stürzte aus der wirbelnden Masse der Blutkrähen und schoss wie ein Pfeil in die Tiefe. Einige Blutkrähen lösten sich aus der Menge, um ihn zu verfolgen, drehten jedoch ab, da die Kraft des Flusses und der Schutzzauber des Hauses sie fern hielt.
Der Falke stürzte wie ein Stein, so, als wäre er tot. Doch vierzig, fünfzig Fuß über dem Garten breitete er plötzlich die Schwingen aus, bremste seinen Sturz und landete vor Liraels Füßen. Sein Gefieder war zerzaust, und er blutete am Kopf. Doch seine gelben Augen blickten klar, und er hüpfte scheinbar mühelos auf Sams Handgelenk, als der ihm einen Platz auf den Manschetten seines Hemdes bot.
»Botschaft für Prinz Sameth«, sagte der Falke mit einer Stimme, die nicht die eines Vogels war. »Botschaft.«
»Ist schon gut«, sagte Sam beruhigend und strich vorsichtig die Federn des Falken glatt. »Ich bin Prinz Sameth. Sprich.«
Der Vogel legte den Kopf schief und öffnete den Schnabel. Lirael sah dort Charterzeichen und erkannte plötzlich, dass der Vogel einen Zauber in sich trug, der wahrscheinlich bereits gewirkt worden war, als er sich noch im Ei befunden hatte: Der Zauber war mit dem Falken gewachsen.
»Sameth«, sagte der Kurierfalke, und seine Stimme änderte sich wieder. Jetzt schien sie die einer Frau zu sein. Nach Sams Miene zu schließen nahm Lirael an, dass es die Stimme seiner Schwester Ellimere war.
»Vater und Mutter sind noch in Ancelstierre. Die Schwierigkeiten dort sind schlimmer als befürchtet. Corolini steht ohne Zweifel unter dem Einfluss von jemandem aus dem Alten Königreich, und seine Patriotische Partei wird im Parlament zusehends stärker. Immer mehr Flüchtlinge werden näher an die Mauer gebracht. Es gibt auch Berichte über Tote Kreaturen am gesamten Westufer des Ratterlins. Ich werde die Ausgebildeten zusammenrufen und in den nächsten zwei Wochen mit ihnen und der Garde nach Barhedrin ziehen. Es ist wichtig, dass du Nicholas Sayre findest und sofort nach Ancelstierre zurückbringst. Corolini behauptet nämlich, wir hätten Nicholas entführt, um den Premierminister zu erpressen.
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