Das alte Königreich 02 - Lirael
darauf stimmten viele ausgetrocknete, verwesende Kehlen in das Heulen ein.
»Chlorr hat die Totenhände erreicht«, erklärte Mogget. »Wir müssen sofort weg!«
Der Kater huschte davon. Sam wollte ihm folgen, doch Lirael fasste ihn am Arm.
»Wir können nicht einfach davonlaufen!«, sagte sie mit leisem Zorn. »Wenn wir sie einfach so liegen lassen, werden ihre Körper benutzt!«
»Aber wir dürfen nicht bleiben!«, entgegnete Sam. »Ihr habt Mogget doch gehört. Es sind zu viele Hände, und Chlorr wird ebenfalls zurückkommen.«
»Wir müssen etwas tun!«, flehte Lirael und blickte die Hündin an. Ihre Freundin würde ihr bestimmt helfen! Sie mussten das Läuterungsritual über den Leichen vollziehen oder sie binden, damit sie nicht von Toten Geistern als Hülle benutzt werden konnten.
Doch die Hündin schüttelte den Kopf. »Dafür reicht uns die Zeit nicht«, entgegnete sie traurig.
»Sam kann die Glocken holen. Wir müssen…«
Die Hündin stupste Lirael am Bein. Das Mädchen stolperte vorwärts. Tränen schimmerten in ihren Augen. Sam und Mogget waren bereits weit voraus und eilten auf die Weiden zu.
»Schnell!«, drängte die Hündin nach einem Blick zurück. Sie konnten bereits das Klicken unzähliger Knochen hören und verwesendes Fleisch riechen. Die Toten kamen rasch näher.
Lirael weinte, während sie sich schwerfällig bewegte. Könnte sie doch nur schneller laufen! Könnte sie doch nur besser mit der Panflöte umgehen! Vielleicht hätte sie dann wenigstens einen der Flüchtlinge retten können.
Doch einer war ja
tatsächlich
den Händen entkommen!
»Der Mann!«, rief sie. »Der Mann im Fluss! Wir müssen ihn retten!«
43
ABSCHIED VON FINDERIN
Selbst mit dem ausgeprägten Geruchssinn der Hündin und Moggets unübertrefflicher Fähigkeit, in der Dunkelheit zu sehen, dauerte es fast eine Stunde, den Südling zu finden, dem es gelungen war, in den Fluss zu entkommen.
Er trieb immer noch auf dem Rücken dahin, doch sein Gesicht schaute nur knapp aus der Wasseroberfläche heraus, und er schien nicht zu atmen. Als Sam und Lirael ihn näher zum Schiff zogen, öffnete er jedoch die Augen und ächzte vor Schmerz.
»Nein, nein«, stöhnte er. »Nein!«
»Haltet ihn«, flüsterte Lirael Sam zu. Sie griff rasch in die Charter und zog mehrere Heilsymbole hervor, nannte sie beim Namen und schützte sie in den hohlen Händen. Dort glühten sie warm und beruhigend, während sie den Mann nach offensichtlichen Verletzungen absuchte. Sobald der Zauber bei ihm wirkte, konnten sie ihn aus dem Wasser ziehen.
Am Hals des Mannes befand sich ein großer Fleck verkrusteten Blutes. Doch als Lirael die Hand danach ausstreckte, schrie er auf und versuchte sich Sams Griff zu entziehen.
»Nein! Das Böse!«
Lirael zog verwirrt die Hand zurück. Das goldene Licht ihrer Chartermagie war rein und klar, ohne eine Spur Freier Magie.
»Er ist ein Südling«, flüsterte Sam. »Sie glauben nicht an Magie, und sie verachten sogar den Aberglauben der Ancelstierrer. Es muss schrecklich für sie gewesen sein, als sie die Mauer überquert haben.«
»Land jenseits der Mauer«, schluchzte der Mann. »Er hat uns Land versprochen… für Bauernhöfe, für ein neues Zuhause, für etwas Eigenes…«
Lirael versuchte wieder, ihm den Zauber aufzulegen, doch der Mann kreischte und kämpfte gegen Sams Griff an. Die Wellen, die er dadurch verursachte, tauchten seinen Kopf mehrmals unter, bis Lirael die Hand wegziehen und den Zauber aufgeben musste.
»Er stirbt«, stellte Sam entmutigt fest. Er konnte spüren, wie das Leben des Mannes verebbte, wie der Tod mit kalten Fingern nach ihm griff.
»Was können wir tun?«, fragte Lirael. »Was…«
»Alle tot«, krächzte der Mann und hustete. Blut, mit Flusswasser gemischt, lief ihm aus dem Mund und schimmerte hellrot im Mondschein. »In der Grube. Sie waren tot… und doch gehorchten sie seinen Befehlen. Und das Gift… Ich habe Hral und Mortin gewarnt, davon zu trinken… vier Familien…«
»Beruhigt Euch«, murmelte Sam, obwohl seine Stimme schwankte. »Sie… sie sind entkommen.«
»Wir rannten und die Toten verfolgten uns«, flüsterte der Südling. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich, als er weitersprach. »Tag und Nacht rannten wir. Sie mögen die Sonne nicht. Torbel hat sich den Knöchel verstaucht, und ich… ich konnte ihn nicht tragen.«
Lirael streckte die Hand aus und strich dem Mann über den Kopf. Er zuckte zusammen, entspannte sich jedoch, als er kein
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