Das Amerikanische Hospital
die Stadt überrennenden Tourismus noch nicht betroffen war, in den Weinbergen in der Nähe des Fernsehturms. Es gab dort eine amerikanische Buchhandlung mit Teestube, und verschiedene Wege führten hinunter in die Altstadt. Von dem durch Žižkov, der der kürzeste war, hatte ihnen der Vermieter, ein polyglotter Tscheche, abgeraten, dort seien unter dem Kommunismus die Zigeuner aus der Slowakei angesiedelt worden, die das ganze Viertel zu einer Kloake machten und zu einer gefährlichen noch dazu.
Aber wenn sie durch Žižkov hinuntergingen, sahen sie nie irgendetwas Auffälliges und wurden auch nie Opfer irgendeiner Aggression oder auch nur eines Taschendiebes, vor denen man sich auf der Karlsbrücke im Menschengewimmel oder auf dem Krönungsweg viel mehr zu hüten hatte. Um die Brücke wenigstens einmal ungestört zu erleben, stellten sie sich einen Morgen den Wecker früh und waren vor Sonnenaufgang dort. Vom Ufer betrachtet, sah sie aus wie ein Scherenschnitt oder
wie eine Szene aus der Laterna magica. Erste Souvenirhändler und Maler bauten ihre Stände auf.
Es war sogar in Žižkov, wo sie ein preiswertes und gutes Restaurant fanden. Dort glich die Wahl der Gerichte einer Lotterie, da die Speisekarte nur auf Tschechisch vorlag und auch die Serviererin keine andere Sprache beherrschte. Nach Mitternacht traten regelmäßig Jazzmusiker auf, und unter Jazzliebhabern schien die Kneipe bekannt zu sein, denn gegen zehn füllte sich der Gastraum mit Menschen, die nicht mehr zum Essen hierherkamen, sondern bei einem Bier auf den Beginn des Jams warteten.
Hélène und ihr Mann waren verunsichert, was sich darin äußerte, dass er sehr zuvorkommend zu ihr war, fast so wie zu einer Kranken oder Rekonvaleszentin, die noch nicht über genügend Kräfte verfügt, weite Wege zu gehen oder Türen selbst zu öffnen. Hélènes Zuversicht, ihre Gewissheit, dass die Behandlung im amerikanischen Hospital früher oder später, aber mit absoluter Sicherheit, Erfolg haben werde, war nicht zerstört, aber erschüttert. Es war beiden plötzlich bewusst, dass der Ausgang ihrer Bemühungen völlig offen war, dass es kein Lebensgesetz gab, das ans Ende ihrer Anstrengungen und der akribischen Befolgung aller ihnen gegebenen Anweisungen zur Belohnung auch automatisch die Geburt eines Kindes stellte.
Aber nicht nur ging ihr Mann behutsamer mit ihr um, so wie mit einem zerbrechlichen Kleinod, das der Besitzer, aus Angst, es zu zerstören, trotz seiner Schönheit gar nicht mehr aus seinem samtüberzogenen Kästchen holt, es kam auch öfter als zuvor zu Streitereien zwischen
ihnen, die meistens damit begannen, dass er ihr anlässlich irgendeines banalen Vorfalls Vorwürfe machte, nicht positiv genug zu denken, nicht selbstsicher genug zu wollen, zu fatalistisch, zu defätistisch, zu willenlos zu sein - er selbst neigte wieder, wie vor dem Beginn ihrer IVF und trotz der damaligen Niederlage dazu, an die alle Realitäten bezwingende Kraft des Willens zu glauben.
Zweimal zu scheitern war immer noch vollkommen normal, und es gab keinen Grund, Hoffnung und Zuversicht aufzugeben, aber eine leise Anspannung entwickelte sich, und Hélène, die jetzt fast zwei Jahre lang die seltsame Erfahrung machte, in ihrem Körper Veränderungen zu spüren, die von außen bewirkt wurden - sie fühlte Ausdehnungen und Verkrampfungen, sie fühlte die Schwellung der Eierstöcke, sie fühlte die Sekretionen und Hormone in ihrem Innern, auf ihrer Haut, in ihrer Seele agieren -, Hélène begann sich als ein Gefäß zu sehen, in dem alle möglichen chemischen Reaktionen herbeigeführt werden und das ab und zu ausgewaschen werden muss, um für neue Experimente bereit zu sein.
Natürlich bestand Gesprächsbedarf. Anne-Laure empfing sie wie alte Bekannte, und auch Le Goffs Sprechzimmer mit den Seglerfotos, die ihm eine bretonisch-heimelige Atmosphäre verliehen, kam ihnen wie die Wohnung eines alten Freundes vor. Hélènes Mann bat gleich nach der einführenden Unterhaltung um eine schonungslose Analyse und eine ehrliche Einschätzung ihrer Chancen angesichts der zwei nach so vielversprechendem Beginn überraschend abgebrochenen Schwangerschaften. Le Goff, den weißen Kittel, in dessen Brusttasche mehrere Einwegkugelschreiber und ein Montblanc-Füller steckten,
wie üblich geöffnet, darunter trug er ein feingestreiftes graues Hemd und eine dunkelrote Seidenkrawatte, lauschte melancholisch lächelnd, so wie sie ihn kannten, faltete dann die Hände und erklärte, es sei
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