Das Amulett der Pilgerin - Roman
bei einer so wichtigen Sache jetzt nicht die Nerven verlieren. Was war bloß los mit ihr? Sie ging in die Kirche und kniete sich in die erstbeste Bankreihe. Mit geschlossenen Augen begann sie ein Ave Maria zu sprechen, aber ihre Gedanken wollten nicht bei dem Gebet bleiben. Wie konnte sie die Heilige Jungfrau um Stärke bitten, wenn sie eine Sünde begehen wollte? Aber ihr gesamtes Leben war eine einzige Sünde. Viviana hatte sich frühzeitig damit abgefunden, dass ein gottgefälliges Leben für sie nicht vorgesehen war, und somit auch keine Versuche mehr unternommen, ihr Seelenheil zu retten. Sie würde in der Hölle brennen, und es galt nur, diese Verdammnis so weit wie möglich in die Zukunft hinauszuzögern. Viviana dachte an die kurze Zeit, in der sie in gnädiger Unkenntnis über ihre tatsächliche Identität gelebt hatte. Wie leicht war ihr Leben gewesen, frei von dem Joch der Erinnerung an all die furchtbaren Dinge, die sie getan hatte und die ihr angetan worden waren. Ihre Begegnung mit Julian und seiner idealistischen, ehrenhaften Gesinnung, die er auch auf sie übertrug, hatten Viviana zum ersten Mal seit langem wieder an ihrem Tun zweifeln lassen. Plötzlich spürte sie Bedenken, Widerwillen und Zögern bei Dingen, die sie noch vor Kurzem ohne weiteres einfach durchgeführt hätte. Viviana betrachtete ihre gefalteten Hände. Bei dieser Maskerade mit Melchor riskierte sie alles. Sie sollte eigentlich verschwinden, ihm die Liste abnehmen und sich aus dem Staub machen. Stattdessen spielte sie ein gefährliches Doppelspiel mit hohem Einsatz, und für was? Sie tat es für Julian, weil sie ihn liebte. Doch dieses Gefühl erfüllte ihr Herz nicht mit Erwartung oder Freude, es erfüllte es mit einer dumpf schmerzenden Hoffnungslosigkeit. Einmal von der offensichtlichen Tatsache abgesehen, dass ein Ehrenmann wie Julian White weit mehr als eine mörderische Hure verdient hatte, wusste Viviana, dass es Liebe in ihrem Leben nicht geben würde. Für jemanden wie sie war schon lange jede Hoffnung verloren, und auf ihrem Weg gab es keine Umkehr. Viviana betrachtete die Madonna auf dem Altar mit ihrem lieblichen Gesicht, die versonnen vor sich hin lächelte. Nein, Viviana war sich gewiss, sie selbst befand sich bereits jenseits von Gnade. Aber Julian würde nicht dem Teufel zum Fraß vorgeworfen werden, und sie würde tun, was sie musste, um das zu verhindern!
Ein kalter Windzug ließ die Kerzen vor der Marienstatue flackern. Melchor Thorn trat in die Kirche. Viviana stand auf.
»Warst du erfolgreich?«
»Ja, alles geregelt. Jetzt können wir endlich zum angenehmen Teil des Abends übergehen.« Er zwinkerte ihr vielsagend zu. Wieder zeigte Vivianas Gesicht ein Lächeln.
»Willst du noch eine Kerze anzünden?«, fragte Melchor und wühlte in seinem Beutel nach einer Münze.
Viviana blickte auf die kleinen, grob geformten Wachsklumpen zu Füßen der Madonna. Sie schüttelte den Kopf und ging an Melchor vorbei hinaus in die Dämmerung.
Kaum waren sie die Treppen zu ihrem Zimmer emporgestiegen und hatten die Tür noch nicht ganz zugemacht, als Melchor Viviana schon in seine Arme riss. Seine feuchten Lippen und sein heißer Atem bedeckten ihr Gesicht. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Dieses eine Mal noch, nur noch dieses eine Mal, dachte sie. Als sie die Augen wieder aufmachte, war ihr dunkler Blick verführerisch und schmeichelnd. Sie wand sich aus seinem gierigen Griff und schob ihn eine Armlänge von sich.
»Langsam«, schnurrte Viviana mit ihrer kehligen Stimme, und ihr Mund öffnete sich verlockend, als sie das Wort aussprach. Sie drückte Melchor nach hinten, bis er gegen den Bettpfosten stieß. Die Fackeln, die draußen zu beiden Seiten des Eingangs brannten, erhellten durch die offene Fensteröffnung auch das Gemach im ersten Stock ein wenig.
»Du wirst jetzt erst einmal gar nichts machen.«
Sie legte ihren Finger auf seinen Mund, als er protestieren wollte. Dann glitten ihre Hände über seine Brust und unter seine Jacke. Sie schob den rotgoldenen Stoff nach hinten und über seine Schulter, sodass Melchor in der freien Bewegung seiner Arme eingeschränkt war. Langsam zog sie sein Hemd aus seiner Hose und glitt dann an ihm hinunter. Ihre Lippen berührten leicht seine nackte Haut. Sie nahm das Hosenband zwischen die Zähne und zog es, sich langsam rückwärtsbeugend, auf. Melchor blickte auf sie hinab und auf die verlockenden Rundungen ihres Dekolletés. Er erzitterte vor Erregung und
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