Das Amulett der Pilgerin - Roman
Mondschein. Es ist bald Vollmond.«
»Ja, so sollten wir es machen«, sagte Rinaldo, als er von Viviana ein Stück Käse in Empfang nahm.
Nach dem Mittagessen legten sie sich alle ins Gras unter die schattigen Bäume und dösten vor sich hin. Außer den Grillen war nichts zu hören, und die Luft stand flimmernd über der Wiese. Ab und zu hörten sie das Schnauben der Pferde und das Klirren des Zaumzeugs, wenn sich eines der Tiere schüttelte, um ein paar Fliegen abzuwehren.
Viviana betrachtete die Baumkronen über sich. Eine leichte Brise bewegte ab und zu die obersten Blätter, sonst regte sich nichts. Wieder fühlte sie diesen tiefen Frieden. Sie wünschte nichts, sie wollte nichts, dieser Augenblick war perfekt. Es wunderte sie, dass sie so empfand, da ihre Zukunft ungewiss war und sie eigentlich alles andere als zufrieden sein müsste. Aber es war nun einmal so, und sie beschloss, es einfach zu genießen. Nach einer Weile drehte sie den Kopf und blickte auf Julian, der ein Stück entfernt neben ihr lag. Er hatte die Augen geschlossen, und seine hageren Züge waren entspannt. Seine Nase war leicht gebogen und vielleicht ein wenig zu groß. Ein paar helle Haarsträhnen fielen ihm über die Stirn, in seinen Augenwinkeln konnte sie kleine Falten entdecken. Die gebräunten Arme hatte er vor der Brust verschränkt, die sich regelmäßig hob und senkte. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie ihn gerne küssen würde, und dachte an Rinaldos Warnung. Er sollte lieber Julian vor ihr warnen als umgekehrt! Julian streckte sich, öffnete die Augen und blickte sie an.
»Na, genug geschlafen?«
»Ich habe nicht geschlafen.«
»Es sah sehr danach aus.«
Julian richtete sich auf. Es ertönte ein Schmatzen, und plötzlich zerteilte Rinaldos Schnarchen die mittägliche Stille. Sie blickten sich an und unterdrückten ein Lachen. Viviana stand auf und schüttelte ihr Kleid aus. Unternehmungslustig sah sie sich um.
»Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, uns bis zum Nachmittag auszuruhen?«
»Ihr alten Männer vielleicht.«
»Alte Männer?« Julian blickte sie entrüstet an. »Welche alten Männer?«
»Ich sehe mich ein bisschen um.«
Julian stand auf.
»Ich komme mit.«
»Du kannst gerne weiterschlafen.«
»Ich habe nicht geschlafen! Und außerdem kann ich dich hier nicht allein herumlaufen lassen.«
»Warum nicht? Hier ist doch niemand.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Es ist einfach unwahrscheinlich.«
Sie gingen über die Wiese und hinterließen eine Spur im hohen Gras.
»Auch unwahrscheinliche Sachen passieren.«
»Gut, dann sagen wir, dass das Unwahrscheinliche passiert und sich hier doch jemand aufhält. Warum sollte diese Person mir feindlich gesinnt sein?«
»Es könnte aber sein.«
»Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr hoch. Das Ganze kombiniert mit der geringen Wahrscheinlichkeit, dass sich überhaupt ein Fremder hier aufhält, resultiert in einer noch geringeren Wahrscheinlichkeit der ersten Annahme.«
Julian starrte sie verdutzt an.
»Das Ergebnis unserer Betrachtung ist folglich, dass die Anwesenheit einer anderen Person hier als unwahrscheinlich gelten kann«, fuhr Viviana unbeirrt fort und lächelte ihn zufrieden an.
»Du bist wirklich eine sehr ungewöhnliche Frau, Viviana.«
»Bloß weil ich logisch denken kann?«
»Das ist es nicht.«
»Was ist es dann?«
Er brauchte nicht zu antworten, denn im selben Augenblick erreichten sie den Bach. Er floss an dieser Stelle durch eine Senke und breitete sich in einem Kiesbett aus. Julian hob einen flachen Kiesel auf und schleuderte ihn über das Wasser. Viviana bückte sich, um ebenfalls einen Stein aufzuheben.
»Du musst dir einen möglichst flachen Stein suchen.«
»Den hier?«
»Der ist zu dick. Hier, probier diesen.«
Julian gab ihr einen nassen Kiesel, trat zu ihr und umfasste ihr Handgelenk.
»So musst du werfen.« Er führte Vivianas Hand, und es war, als hätte er sie im Arm. Sie drehte ihren Kopf, und ihre Gesichter waren sehr nah beieinander. Julian starrte in ihre dunklen Augen, und ihre geschwungenen Lippen waren direkt vor ihm. Er hörte, wie der Kiesel zu Boden fiel, und zog sie auch schon in seine Umarmung und begann sie leidenschaftlich zu küssen. Sie fühlte sich so gut an, und ihre Lippen waren so weich, dass er einen Moment lang die Kontrolle über sich verlor. Als er sie schließlich schwer atmend losließ und von sich schob, konnte er sich nicht erklären, was gerade geschehen war. Er räusperte
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