Das Amulett der Pilgerin - Roman
Thorn?«
Feindselig starrten sie einander an. Melchor Thorn war wie er selbst ein Agent des Kardinals, und sie hassten einander.
»Das könnte ich ebenfalls fragen«, antwortete Thorn mit seiner schleppenden Stimme.
»Das ist Emmitt.« Mit einer nachlässigen Kopfbewegung deutete er auf den jungen Mann, der auf dem Fußboden saß und sich das Blut aus dem Gesicht wischte.
»Nachwuchs«, fügte er noch hinzu.
Julian streckte die Hand aus und half ihm auf die Beine.
»Tut mir leid, Emmitt.«
»Macht nichts, Sir.«
Der Wirt und einige der Gäste waren herbeigeeilt, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Ehe der Wirt den Mund auftun konnte, schnitt ihm Thorn das Wort ab.
»Mister White wird das sicher alles regeln, guter Mann. Nun lassen Sie mich schon durch.«
»Ich dachte, Sie wären befreundet!« Der Wirt stand in der Tür.
»Wiedersehensfreude.« Julian drückte dem Wirt einige Münzen in die Hand.
»Hier, sehen Sie zu, dass wir heißes Wasser bekommen und ein paar Leinenstreifen.«
Der Wirt ging.
»Und nehmen Sie den Rest Ihrer Gäste mit, hier gibt es nichts mehr zu begaffen«, rief Julian ihm nach und wandte sich Emmitt zu, der an der Wand lehnte und etwas blass aussah.
»Setz dich.« Julian drückte ihn auf das Lager. »Lass mal sehen.«
Vorsichtig untersuchte er die Nase.
»Ich glaube, sie ist gebrochen. Tut mir leid.«
Emmitt zuckte tapfer mit den Schultern. Ein Mädchen brachte eine Waschschüssel und Leinenstreifen. Nachdem Julian Emmitt, so weit es möglich war, verarztet hatte, gingen sie in den Schankraum, um ein Bier zu trinken. Es war recht leer, da in der Kathedrale gerade die Abendmesse gelesen wurde.
»Also, sprich, was ist hier los?«
»Wir haben neue Nachrichten über die Verschwörung erhalten.«
Es amüsierte Julian, wie sein Gegenüber bereits voller Stolz die Geheime Kanzlei des Kardinals mit »wir« beschrieb. Emmitt war ein schlaksiger, junger Mann mit blauen Augen und einem hellblonden Haarschopf. Er sah sehr unschuldig aus, und der Gedanke streifte Julian, dass ihm das sicherlich in seiner Laufbahn noch zum Vorteil gereichen würde.
»Also, was gibt es Neues, und was hat Thorn damit zu tun?«
»Wir haben eine Nachricht abgefangen, dass ein Kurier der Verschwörer unterwegs ist.«
»Das war doch schon bekannt, ehe ich aus Westminster abgereist bin.«
Emmitt reichte ihm das Pergament, das in seinem Gepäck gewesen war. Julian überflog die Nachricht. Es gab angeblich eine Liste mit den Namen der Männer in England, die sich der Verschwörung angeschlossen hatten. Der Kurier hatte die Liste. Das Erkennungsmerkmal waren sechs Punkte, die in einem Kreis angeordnet waren. Julian runzelte die Stirn über dieses ungewöhnliche Zeichen. Normalerweise schickte man Siegel oder dergleichen mit. Er selbst trug wie alle Agenten das Siegel des Kardinals bei sich, um sich im Notfall ausweisen zu können. Er las weiter. Der Kurier war nicht, wie zunächst gedacht, über Calais gekommen, sondern war von Cherbourg aus gesegelt. Das hieß, dass er wahrscheinlich hier in Dorset oder Devon an Land gegangen war. Julian dachte wieder an Rinaldo. Es wurde immer wahrscheinlicher, dass er etwas damit zu tun hatte. Viviana hatte Rinaldos Gepäck auf ihrem Pony gehabt. Sobald er sie gefunden hatte, musste er das Gepäck noch einmal genau durchsuchen. Sie mussten unbedingt diese Liste mit den Verschwörern in die Hände bekommen. Wahrscheinlich kannten die sich untereinander noch nicht. Wie viel geheime Vorarbeit musste von den Verrätern bereits geleistet worden sein, dass sie eine ganze Liste von potenziellen Unterstützern hatten aufstellen können. Es gärte schon lange auf dem Festland. Der Thronerbe und sein Bruder, Prinz Richard, konnten sich mit König Henry nicht über die Verteilung des Erbes und der Regierungsaufgaben einigen. Um seine Nachfolge zu sichern, hatte König Henry seinen Sohn, den jungen Henry, bereits als Fünfzehnjährigen zum Mitregenten krönen lassen. Der Bürgerkrieg, der um die Nachfolge seines Großvaters Henry I. entbrannt war, hatte das Land in Chaos und Verwüstung gestürzt. Henry II. war daher darauf bedacht gewesen, die Herrschaft seines Sohnes schon zu seinen Lebzeiten abzusichern. Leider war der Thronerbe mehr mit seiner Leidenschaft des Lanzenstechens als mit dem Mitregieren beschäftigt. Sein mangelndes Interesse an der Politik des Reiches und seine immensen Schulden sorgten dafür, dass er immer neue Forderungen an seinen Vater stellte. Ganz
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