Das Amulett der Pilgerin - Roman
sich diese kleine Spitze.
»Wieso hast du das nicht herausfinden können?«, fuhr Thorn Emmitt an, der sich schuldbewusst ein bisschen tiefer in seinen Sessel drückte.
»Es hätte sich gelohnt, vielleicht schon früher die Augen offenzuhalten, Thorn. Dass ich den Südländer überprüfe, ist dir ja schon länger bekannt.«
»Wo ist er jetzt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Vielleicht ist er auch schon abgereist«, meinte Melchor Thorn.
»Wenn, dann in Richtung Saint Albans.«
»Ist jemand von uns dort in der Nähe?«
Julian zuckte mit den Schultern und verkniff sich eine Bemerkung über Agenten, die ihren Aufenthaltsort nicht mitteilten. Thorn stand am Kamin und blickte ihn abwartend an. Irgendetwas irritierte Julian.
»Also, ich würde vorschlagen, dass ihr die Suche nach dem Spanier übernehmt. Er war in Begleitung von einer weiteren Person. Ich glaube nicht, dass sie etwas damit zu tun hat, sondern sie diente eher als eine Art Tarnung. Als wir bei dem Überfall getrennt wurden, bin ich mit ihr weitergereist. Dann haben auch wir uns verloren. Ich würde gerne nachforschen, was aus ihr geworden ist, und nochmals ihre Verbindung zu Rinaldo überprüfen.«
»Wer ist die andere Person?«
»Eine Frau.«
»Ah! Eine Frau!« Thorns Lippen kräuselten sich spöttisch.
»Ist sie schön?«
»Was tut das zur Sache?«
»Schöne Frauen neigen dazu, ihr Glück bei anderen Männern zu suchen, White.«
Julian fühlte, wie Wut in ihm hochstieg. Natürlich war dies eine Anspielung auf das Verschwinden von Aelia. Kurz nachdem bekannt geworden war, dass Julians Frau verschwunden war, hatte Thorn sich in ausführlichen Überlegungen ergangen, mit welchem Mann sie wohl durchgebrannt war. Als er dann noch grundsätzlich Aelias Moral infrage gestellt hatte, war es nur der Geistesgegenwart des Kardinals zu verdanken gewesen, dass Julian Melchor Thorn nicht im selben Augenblick sein Schwert in die Brust gerammt hatte.
»Also, willst du den Südländer übernehmen oder nicht?«
Thorn seufzte, obwohl es Julian völlig klar war, dass sein Kollege darauf brannte, den Kurier festzusetzen.
»Na gut.«
»Nimmst du Emmitt mit?«
»Von mir aus.«
»Vergiss nicht, der Mann könnte auch unschuldig sein.«
Thorn verdrehte genervt die Augen, und Julian ging zur Tür. Emmitt stand auf.
»Es wird bald dunkel. Ich werde die Südstadt übernehmen, sieh zu, dass du den Rest abklapperst«, sagte Thorn, ohne Emmitt eines weiteren Blickes zu würdigen.
Julian und Emmitt gingen durch den großen Hof der Abtei.
»Sir?«
»Was?«
»Was meinten Sie mit Ihrer letzten Bemerkung?«
»Melchor Thorn bedient sich Methoden der Wahrheitsfindung, die nicht immer angemessen sind.«
Julian war schon früher mit Thorn aneinandergeraten. Sie waren etwa zur gleichen Zeit in den Dienst des Kardinals aufgenommen worden, und es hatte vom ersten Augenblick an eine tiefe Abneigung zwischen ihnen bestanden. Thorn kannte keine Moral, und ihm war jedes Mittel recht, sein Ziel zu erreichen. Ihre erste Auseinandersetzung hatten sie gleich bei ihrem ersten gemeinsamen Fall gehabt. Thorn hatte einen Verdächtigen festgenommen und wollte Informationen aus dem Gefangenen herauspressen. Julian wusste bereits, dass der Mann unschuldig war, aber Thorn hatte das nicht glauben wollen. Der Verdächtige war an den Folgen des Verhörs gestorben. Es hatte sich »nur« um einen Leibeigenen gehandelt, und sein Besitzer war entschädigt worden. Der Kardinal hatte Thorn zur Mäßigung aufgefordert, aber das war alles gewesen. Es war die erste große Enttäuschung, die Julian hinsichtlich seiner Beschäftigung erfahren hatte, aber nicht die letzte.
Sie erreichten den »Gelben Hund«.
»Werden Sie ein Quartier im Gästehaus der Abtei beziehen?« Julian schüttelte den Kopf.
»Nein, Melchor Thorns Beziehungen haben ihm diese luxuriösen Gemächer ermöglicht. Glaube nur nicht, dass wir alle immer so gut untergebracht sind.«
Emmitt nickte.
»Das hatte ich mir schon gedacht. Wollen Sie dann meine Kammer mit mir teilen? Ich habe sie bereits bezahlt, und es ist schwierig, in dieser Stadt ein Bett zu finden.«
Ihre abendlichen Erkundigungen ergaben, dass die Wachen an den Stadttoren keinen berittenen, dunklen Riesen bemerkt hatten und es wahrscheinlich war, dass Rinaldo sich noch in Shaftesbury aufhielt. Während seine beiden Kollegen am nächsten Morgen die Stadt durchkämmten, beschloss Julian, sich ein Pferd zu leihen und in das etwa zwanzig Meilen entfernt gelegene Salisbury
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