Das Amulett der Pilgerin - Roman
begriffsstutzig bist. Ich muss diese Spur verfolgen.«
Sie wollte gerade ihr Pferd antreiben, als ein Pfeil so dicht vor ihrem Gesicht vorbeisauste, dass sie die Berührung der Federn spürte. Ihre Miene zeigte eine Mischung aus Erschrecken und Empörung.
»Bist du von Sinnen, Julian?«
Julian hatte einen weiteren Pfeil angelegt.
»Ich sagte doch, du solltest dich nicht bewegen.«
Viviana starrte ihn an, dann schüttelte sie wütend den Kopf.
»Glaubst du tatsächlich, ich bin eine solche Närrin, dass ich versuche auf so unsinnige Weise zu fliehen? Der Mann wollte mich töten! Es waren noch zwei weitere Reiter bei ihm. Sie sind geflohen, und wenn du vielleicht endlich diesen Bogen senken würdest, könnten wir sie noch einholen!«
»Warum hat er versucht, dich zu ermorden?«, fragte Julian überrascht und nahm tatsächlich den Pfeil aus dem Bogen.
»Einer der Reiter muss zu den Männern gehören, mit denen ich die Leiche der Nonne in Amesbury bergen sollte. Ich habe sein Zaumzeug erkannt.«
Julian stieß seinem Pferd die Hacken in die Seite und ritt an Vivianas Seite.
»Ich habe dir doch erzählt, dass der Stellvertreter des Propstes sich so seltsam verhalten hat, als ich ihm von der Leiche berichtete. Vielleicht hat er die Männer beauftragt, mich aus dem Weg zu räumen. Ich sage dir, Julian, der hat etwas mit dem Verschwinden von Schwester Kendra zu tun.«
Diesen Eindruck hatte er auch. Zwar sollten sie eigentlich nach Saint Albans reiten, aber hier handelte es sich um einen Mordfall. Die Spur war heiß, und sie waren nahe dran. Das rechtfertigte eine hoffentlich kleine Verzögerung.
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie diesen Weg genommen haben, aber er scheint derjenige zu sein, der häufiger benutzt wird«, stellte Viviana fest.
»Der andere Weg trifft wieder auf die Straße. So oder so sind wir ihnen auf den Fersen.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu. Er hatte tatsächlich auf sie geschossen. Dass er sie verfehlt hatte, war kein Zufall gewesen, denn Julian war ein guter Schütze mit einer ruhigen Hand, aber es war sehr knapp gewesen. Er war davon ausgegangen, dass Viviana ihr Wort gebrochen hatte und geflohen war. Hätte er die Sache ruhig und nüchtern betrachtet, wären ihm gleich Zweifel an einer Flucht gekommen. Aber er war sofort wütend geworden und hatte augenblicklich seine schlimmsten Erwartungen bestätigt gesehen. Einmal mehr ärgerte sich Julian über sich selbst.
Wenig später kamen sie an die Stelle, an der der Rundweg wieder auf die Hauptstraße führte. Julian stieg ab und untersuchte den Boden.
»Aus dieser Richtung ist heute noch keiner gekommen. Entweder sind sie vor uns auf der Straße, oder sie haben den Nebenweg genommen. Das ist ein ziemlicher Umweg, und sie werden dann noch nicht hier vorbeigekommen sein.«
»Warum sollten sie den Umweg genommen haben?«
»Weil sie sich nicht auskannten. Du wusstest ja auch nicht, dass es nur eine Nebenstraße ist.«
Viviana nickte.
»Da hinten kommt jemand.«
Ihnen kam eine Bäuerin auf einem Maultier entgegen. Es war schwer beladen mit Säcken, lief aber trotz der zusätzlichen Last zügig voran.
»Guten Tag! Sagen Sie, sind Ihnen zwei Reiter entgegengekommen?«, rief Julian sie an.
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Mir ist in der letzten halben Stunde niemand begegnet«, antwortete sie, ohne auch nur ihr Maultier zu zügeln, und war schon an ihnen vorbeigetrabt.
Viviana und Julian sahen sich an.
»Von der Straße zweigt keine andere Straße ab?«
»Nein, es gibt nur Felder und Moor. Es ist unwahrscheinlich, dass sie den Weg verlassen haben.«
»Na, dann sollten wir sie gebührend empfangen, findest du nicht?«, fragte Viviana und lenkte, ohne eine Antwort abzuwarten, ihr Pferd in den Seitenweg.
Sie banden die Pferde ein Stück weit querfeldein hinter ein paar Sträuchern an. Julian legte sich seine Pfeile zurecht, als er sah, wie Viviana unter ihrem Gewand einen breiten Gürtel hervorholte. Vier schlanke Wurfmesser glänzten in der Sonne.
»Ich habe in Exeter etwas aufgestockt, und anscheinend war das auch nötig.«
Er schüttelte nur den Kopf.
»Jetzt werden wir noch mehr Zeit vergeuden, um diese Mörder in Verwahrung zu nehmen«, meinte Julian missmutig.
»Du willst sie ja wohl nicht etwa am Leben lassen?«
»Natürlich. Sie werden vor ein Gericht gestellt und verurteilt werden.«
»Sie haben wahrscheinlich die arme Schwester Kendra auf dem Gewissen und obendrein versucht, mich zu ermorden«, empörte sich Viviana.
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