Das Amulett der Pilgerin - Roman
gewechselt werden konnten. Im Schatten einiger Bäume hatte man Bänke und Tische für die unregelmäßigen Besucher aufgestellt, und aus der Küche war das Mittagessen serviert worden. Viviana stand auf.
»Wo gehst du hin?«
Sie würdigte ihn keiner Antwort und wollte zum Haus gehen, als er vorschnellte und ihren Arm packte.
Viviana wirbelte herum, und sie starrten einander wütend an.
»Du scheinst zu vergessen, unter welchen Bedingungen du hier in England auf freiem Fuß bist.«
Sie wollte ihm ihren Arm entziehen, aber er hielt sie schmerzhaft fest.
»Also, wo gehst du hin?«
»Ich wollte nach Rinaldo fragen.«
»Wir werden nicht von unserem Weg abweichen, um ihm sein elendiges Gepäck wiederzugeben.«
»Meine Güte, Julian. Es kostet dich nichts, ein bisschen freundlich zu sein, ist das so schwierig?«
Er blickte sie missgelaunt an. Je eher dieser Auftrag erledigt war, desto besser.
»Wir sind sowieso schon spät dran und sollten nicht auch noch zusätzliche Zeit verlieren.«
»Aber fragen kann ich doch wohl, oder verschwende ich damit auch schon Zeit?«, schnappte Viviana giftig.
Julian zuckte mit den Schultern und ließ sie los. Sie rieb sich den Arm und ging hinüber zum Haus. Julian fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Wenn sie sich den gesamten Weg nach Saint Albans nur streiten würden, würde es die längste Reise seines Lebens werden.
Viviana ging in die Küche. Die Frau, die an dem großen, offenen Herd arbeitete, war in etwa ihrem Alter und knetete mit kräftigen Händen Brotteig.
»Verzeihung. Ist hier vielleicht ein Bekannter von mir vorbeigekommen? Ein großer, kräftiger Mann. Dunkel wie ich mit einer hellen Stimme und einem Akzent?«
Die Magd richtete sich auf und wischte mit dem mehligen Arm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie schüttelte den Kopf.
»Am besten fragen Sie den Knecht.«
Der Stall der Poststation war ein großes Gebäude mit einem Heuboden. Es gab bestimmt zehn Pferdeverschläge. Das Innere des Stalls war dämmrig, und die Luft war erfüllt vom Staub des Heus. Am anderen Ende auf der gegenüberliegenden Seite gab es noch ein zweites Eingangstor, das auf den hinteren Hof hinausging. Viviana ging an den Verschlägen vorbei zur hinteren Tür. An der Tränke waren drei Pferde festgebunden, die Tiere schienen vor nicht allzu langer Zeit angekommen zu sein, aber Viviana hatte noch keine weiteren Gäste bemerkt. Eines der Pferde kam ihr bekannt vor. Wo hatte sie diese auffällige blaue Trense schon einmal gesehen, fragte sie sich und wollte gerade neugierig aus dem Stall treten, als sie plötzlich von den Füßen gerissen wurde. Sie wurde zu Boden geschleudert, und ein Mann stürzte sich brutal auf sie und presste ihr schweres Sackleinen auf Mund und Nase. Viviana bekam keine Luft mehr, vergebens zerrte sie am Arm des Angreifers. Mit sinnloser Gegenwehr verschwendete sie nur Kraft, fieberhaft suchten ihre Finger in den Falten ihres Kleides nach dem Dolch. Sie musste atmen, sie brauchte Luft! Vor ihren Augen begann alles zu verschwimmen, gleich würde sie ohnmächtig werden, und dann wäre alles vorbei. Endlich, der Dolch! Sie packte den Griff und rammte dem Angreifer die Klinge in die Seite. Er zuckte zusammen und stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus. Noch einmal und noch einmal stach Viviana mit letzter Kraft zu. Endlich erschlaffte sein Griff, und der Mann sackte auf dem Boden zusammen. Keuchend und hustend zwängte sie sich unter ihm hervor und saß einen Augenblick schwer atmend auf dem Boden. Der Angreifer lag regungslos da, wahrscheinlich war er tot. Mühsam stand Viviana auf. Wer war der Kerl? Sie beugte sich über den Mann, um ihn umzudrehen, als aus dem Tor ein Schatten auf sie fiel.
»Hast du sie erwischt, Ed?«
Viviana schnellte empor.
»Nein, hat er nicht.«
Ihr noch blutiger Dolch verfehlte den Hals des zweiten Mannes nur knapp und blieb zitternd im Holz des Türrahmens stecken. Viviana hörte einen Fluch, und der Schatten verschwand. Den würde sie noch erwischen! Viviana machte einen Satz über die leblose Gestalt am Boden und wollte auf den Hof stürmen, um die Verfolgung aufzunehmen, als sie stolperte und lang hinschlug. Der erste Angreifer war doch nicht tot. Er hatte sie, noch immer auf dem Boden liegend, an ihrem Rock gepackt und zerrte sie zu sich her. Wütend trat Viviana mit den Füßen nach ihm.
»Lass mich los, du Schwein!«, zischte sie, aber sie konnte sich nicht befreien und wurde über den Erdboden geschleift. Wieder
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