Das Amulett der Pilgerin - Roman
wieder spöttisch an. »Und mir ist auch bewusst, dass du es kaum abwarten kannst, ihn ihm zu präsentieren. Aber das sind keine Schwierigkeiten, Julian, das sind die normalen Bedingungen einer solchen Abmachung.«
»Glaubst du, dass ich dich ans Messer liefern will?«
»Selbstverständlich glaube ich das.«
Die Lichter wurden bereits angezündet, als sie in einem kleinen Ort mit einer Herberge haltmachten. Viviana bestellte ein Bad und verschwand in der Kammer, die Julian für sie beide gemietet hatte. Er überprüfte die Unterbringung der Tiere und aß zu Abend. Wenn Viviana hungrig war, dann konnte sie sich ja selbst darum kümmern, dachte Julian. Nach einem zweiten Bier nahm er die Kerze und ging hinauf in die Kammer im ersten Stock. Er öffnete die Tür, aber der Raum war leer. War sie geflohen? Er rannte die Treppe wieder hinunter und in den Stall. Die Reittiere waren alle noch da. Langsamer ging er zurück zum Haus. Sie hatte ein Bad nehmen wollen. Julian ging um den Gasthof herum und sah ein schwaches Licht in der Waschküche. Leise schlich er näher und blickte durch die angelehnte Tür.
Nein, es war nicht dasselbe. Wenn sie mit dem Kopf unter Wasser tauchte und die Luft so lange anhielt, bis ihre Lungen zu bersten drohten – passierte nichts. Es war nicht wieder rückgängig zu machen. Man konnte sein Gedächtnis nicht einfach wieder im Wasser abgeben. Viviana bewegte das Seifenstück zwischen ihren Händen. Sie hatte in Shaftesbury ein Stück dieser teuren Seife aus dem Land der Sarazenen gekauft, weil sie Julian hatte ärgern wollen und auch, weil sie endlich wieder ein luxuriöses Bad nehmen wollte. Viviana betrachtete ihre Hände: nicht die Hände einer noblen Dame, einer Bürgerin oder einer Zofe. Es waren die Hände einer Diebin, einer Verräterin, einer Mörderin. Sie tauchte das Gesicht in den Schaum. Ein bisschen Seife geriet zwischen ihre geschlossenen Lider und mischte sich mit ein paar Tränen. Das Wasser wusch die Seife fort. Wieder blickte Viviana auf ihre zierlichen, braunen Hände. Es waren die Hände einer Person, die trotz allem noch am Leben war und die tat, was sie tun musste, damit das auch so blieb. Viviana stand auf und wrang das Wasser aus ihren langen Haaren. Sie trocknete sich ab und war gerade dabei, ihre Haare zu einem Zopf zu flechten, als sie plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und blickte zur Tür. Dort war Julian. Er stand reglos da und sagte nichts. Wie lange beobachtete er sie schon? Für einen Moment blickten sie einander an. Die Zeit stand still. Viviana kannte den hungrigen Blick, den Männer bekamen, wenn sie sich entkleidete. Aber dies war nicht der Ausdruck, der in Julians Augen lag, und doch lag Verlangen in seinem Blick.
»Was willst du?«, fragte sie brüsk.
»Nichts, ich wollte nur sehen, wo du bist.«
»Das hast du ja jetzt gesehen.«
Julian nickte und ging. Sie blickte ihm nach. Es würde bald vorbeigehen wie jeder Schmerz.
• 17 •
D ie Nacht verlief ereignislos, und der nächste Morgen brachte zuverlässig wieder schönes Wetter. Auf den Wiesen am Wegesrand lag noch der Tau, und die Luft roch frisch nach nächtlichem Regen. Der rote Klatschmohn strahlte mit dem Blau des Himmels um die Wette. Viviana dachte, dass der Tag geradezu provozierend idyllisch war, als wenn er sich über sie lustig machen wollte. Sie hatte von Anfang an Bedenken gehabt, diesen Auftrag anzunehmen, und jetzt war sie in dieser unguten Situation gelandet. Sie saß zwischen allen Stühlen. Irgendjemand musste ihre Identität verraten haben. Es gab so viele Möglichkeiten. Im normannischen Reich intrigierte jeder gegen jeden und alle gegen König Henry: der Thronfolger, der wie sein Vater Henry hieß, sein Bruder Richard, Louis von Frankreich, Königin Eleonore und wer weiß wer sonst noch alles. Viviana bewegte sich durch das Geflecht von Beziehungen und gegensätzlichen Interessen geschmeidig wie eine Schlange. Sie würde sich auch aus dieser Klemme herauswinden können. Viviana blickte auf Julian, der vor ihr ritt. Er hatte von Ehre und Loyalität gesprochen, als wenn er tatsächlich daran glauben würde. Doch sie wusste, dass er den Auftrag hatte, sie zu töten, sollte sie versuchen zu fliehen. Aber diese Gelegenheit würde sie ihm nicht geben. Zunächst musste sie unbeschadet nach Saint Albans kommen. Was dann weiter passieren würde, blieb abzuwarten.
Gegen Mittag kamen sie an einen großen Bauernhof, bei dem auch die Postpferde
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