Das Amulett der Pilgerin - Roman
Kendra war erst kurze Zeit in Amesbury gewesen, und die sittenlosen Zustände hatten sie geschockt. Als gute Benediktinerin hatte sie sich hilfesuchend an die große Schwesterabtei in Shaftesbury gewandt. Leider war sie jedoch an den Stellvertreter geraten und damit an einen Mann, der regelmäßig in Amesbury zu Gast war und selbst an dem beklagten, gottlosen Treiben seinen Anteil hatte. Der Stellvertreter hatte versucht, Schwester Kendra zu beschwichtigen, was aber offensichtlich fehlgeschlagen war, denn wieder zurück in Amesbury hatte sie Mutter Beatrice gedroht, sich direkt an den Bischof zu wenden. Keinem konnte daran gelegen sein, das Kloster oder gar den Stellvertreter in Misskredit zu bringen, und so musste Schwester Kendra, eine kinderlose Witwe, verschwinden. Der Stellvertreter war nach Amesbury geritten und hatte Schwester Kendra unter dem Vorwand, ihr eine Audienz beim Bischof zu ermöglichen, mit sich gelockt und dann ermordet. Alles hatte wie am Schnürchen geklappt, bis Viviana auf die Leiche stieß. Auf Vivianas Frage, warum die Leiche nicht ordentlich im Moor versenkt und stattdessen einfach unter einem Heuhaufen verborgen worden war, zuckte der Mann mit den Schultern. Er hätte den Auftrag gehabt, die Leiche verschwinden zu lassen, aber dann hatte es sich nicht ergeben, nochmals hinauszureiten, wo doch ohnehin niemand jemals dort vorbeikäme. Dieser Bericht brachte ihm von Viviana nur ein verächtliches »Pfuscher« ein.
Der Nachmittag war fast vorüber, als sie schließlich wieder bei der Poststation ankamen. Natürlich war die Leiche im Stall inzwischen entdeckt worden. Der Verwalter des naheliegenden Gutes, zu dem die Poststation gehörte, war ebenfalls eingetroffen, um den toten Unbekannten und das seltsame Verschwinden der beiden Reisenden zu untersuchen. Julian war bis in die Abendstunden damit beschäftigt, dem Vogt Bericht zu erstatten und Ben aus Amesbury seine Aussage wiederholen zu lassen. Danach wurden die beiden Gefangenen auf dem Gutshaus in Gewahrsam genommen, und die Leiche wurde in einer Ecke jenseits der Friedhofsmauer, die Dieben und Mördern vorbehalten war, verscharrt. Nachdem nach zunächst erfolgloser Suche dann doch noch ein Stück Pergament herbeigeschafft werden konnte, schrieb Julian mit einer erbärmlichen Feder an Sir William in Shaftesbury einen kurzen Bericht über die Machenschaften des stellvertretenden Propstes der Abtei. Sir William würde wissen, an wen er diese Informationen weitergeben musste, damit der Mann dingfest gemacht werden konnte.
Schließlich ging er zu Viviana, die in der Abenddämmerung unter den Bäumen saß. Es hatte keinen Sinn mehr, heute noch weiterzureisen.
»Ich kann nicht glauben, dass wir fast einen ganzen Tag verloren haben«, sagte Julian, als er sich ihr gegenüber auf die Bank setzte.
»Einen halben.«
Er blickte sie an.
»Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Julian. Ich konnte ja nicht wissen, dass man mir auflauerte. Ich wollte nur nach Rinaldo fragen.«
»Warum willst du Rinaldo so dringend sein Gepäck zurückgeben? Es ist ja nicht so, als wenn du nichts anderes, Wichtigeres, zu tun hättest.«
Viviana schwieg einen Moment und sagte dann: »Rinaldo ist der einzige Mensch in einer sehr langen Zeit gewesen, der völlig selbstlos freundlich zu mir war.« Sie zeichnete mit ihrem Finger den Rand ihres Bierkruges nach. »Mehr noch, er hat große Unannehmlichkeiten in Kauf genommen, nur um mir zu helfen.« Sie hielt in ihrer Bewegung inne und blickte Julian an. »Und er hat nichts als Gegenleistung gewollt.«
»Er hat irgendetwas zu verbergen«, entgegnete Julian, der sich mit seinen weniger selbstlosen Motiven ertappt fühlte. Viviana zuckte mit den Schultern.
»Das ist mir gleichgültig, ich beurteile ihn nach dem, wie er sich mir gegenüber verhalten hat.«
»Und wenn er ein gemeiner Mörder ist?«
Sie hob die Brauen.
»So wie du und ich?«
»Ich würde nicht so weit gehen, mich als einen gemeinen Mörder zu bezeichnen.«
»Aber mich würdest du so nennen?«
Ihre Stimme klang neugierig, ein bisschen belustigt, aber sie suchte keinen Streit.
»Leben an sich scheint für dich wenig Wert zu haben. Du hättest die beiden Männer heute getötet.«
»Ja, sie haben den Tod verdient.«
»Ich bin mir sicher, dass sie ein solches Urteil bekommen werden.«
»Wenn nicht einer von ihnen zufällig der beste Freund des Lehnsherrn ist, oder sein heimlicher Bettgenosse oder sein Bastardsohn oder der seines Freundes«, entgegnete sie
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